Zu viele Ops nur des Geldes wegen?

In Deutschland gibt es zu viele unnötige Operationen - diese Behauptung sieht die GKV nun bestätigt: Ein von ihr beauftragtes Gutachten kommt zum Schluss, dass es manchen Kliniken bei Ops mehr ums Geld geht statt um den medizinischen Nutzen für die Patienten.

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Hohe Konzentration am Operationstisch. Die GKV unterstellt, dass es dabei manchmal mehr ums Geld denn um Medizin geht.

Hohe Konzentration am Operationstisch. Die GKV unterstellt, dass es dabei manchmal mehr ums Geld denn um Medizin geht.

© Gina Sanders / fotolia.com

Von Anno Fricke

BERLIN. Die Alterung der Gesellschaft erklärt nur zum Teil die Zunahme an Krankenhausfällen. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsprojekt im Auftrag der gesetzlichen Krankenversicherung.

Es gebe eine "brutal stetige Mengenentwicklung, die völlig autonom abläuft", interpretiert der Krankenhaus-Experte des GKV-Spitzenverbands, Dr. Wulf-Dietrich Leber, die Aussagen des Gutachtens.

Dabei handelten die Krankenhäuser rational. Die im DRG-System besser bezahlten Behandlungen würden auch häufiger gemacht und abgerechnet.

Das seit Januar 2012 laufende Forschungsprojekt unter Federführung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) hat ergeben, dass in den Jahren zwischen 2006 und 2010 die Leistungsmenge um 13 Prozent gestiegen sei.

Die Gutachter sind sich sicher, dass es auch ökonomische Gründe dafür gibt, dass die Zahl der Krankenhausbehandlungen steigt.

Kassen fordern grundlegende Reformen

Nicht einmal 40 Prozent des Zuwachses von rund 1,3 Millionen Klinikbehandlungen seit dem Jahr 2006 lasse sich mit der demografischen Entwicklung in Deutschland erklären, begründet Projektleiter Dr. Boris Augurzky die These, dass es weitere Ursachen für die Mengenentwicklung in den Krankenhäusern geben müsse.

Den Vertretern des GKV-Spitzenverbandes, Auftraggeber des Gutachtens, kommen die Ergebnisse gerade recht. Derzeit verhandelt die Koalition über die Klinikfinanzen. So sollen Kliniken für übermäßige Behandlungen etwas weniger bekommen.

Die Kassen fordern sogar noch grundlegendere Reformen. "Vieles deutet darauf hin, dass in den Kliniken aufgrund ökonomischer Anreize medizinisch nicht notwendige Leistungen erbracht werden", zitiert eine Pressemitteilung des Verbandes den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden Johann Magnus von Stackelberg.

Daher fordert der GKV-Verband, zum Beispiel die derzeit auf zwei Jahre begrenzten Mehrleistungsabschläge für länger einzuführen und den Krankenkassen Direktverträge mit den Krankenhäusern zu ermöglichen.

Auch aus der Politik sind deutliche Stimmen zu hören: "In Deutschland wird zu oft und zu früh operiert, etwa bei Bandscheiben-Vorfällen oder Knie-OPs," sagte der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion Jens Spahn am Mittwoch der dpa.

Manche Kliniken zahlten Chefärzte Boni nach der OP-Zahl. "Da wollen wir im Interesse der Patienten und Beitragszahler ran."

Zahl der Ops am Muskel-Skelett-System steigen

Die empirischen Ergebnisse der RWI-Untersuchung könnten diese Einschätzung bestätigen. Die Zunahme von Operationen am Muskel-Skelett-System ist einer der Parameter, die Studienleiter Augurzky als Argument heranzieht, warum die Demografie alleine nicht für die Mengenausweitung herhalten könne.

Um 360.000 Fälle habe ausweislich der bei der GKV zusammengeführten DRG-Daten alleine dieses Feld seit 2006 zugelegt.

Den Grund vermutet er vielmehr darin, dass die vergleichsweise hohen Vergütungen für diese Behandlungen zu verstärkten Anstrengungen der Kliniken führten, für diese Operationen Patienten zu gewinnen.

In diese Kerbe schlägt auch Professor Fritz Uwe Niethard. Er hat als Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Unfallchirurgie die Entwicklung bei Rückenpatienten genau beobachtet.

"Früher war die konservative Behandlung eine breite Autobahn, heute ist es Schmalspur", klagt er im Gespräch mit "dpa".

Dabei müssten viel mehr Menschen zur Krankengymnastik. Doch: Praxisärzte könnten wegen ihres Budgets dafür in der Regel nur Rezepte für sechs Sitzungen ausstellen - und in den Kliniken sei Physiotherapie wegen des pauschalen Bezahlsystems ökonomisch fast unmöglich geworden.

Wirbelsäulen-OPs hingegen würden ihnen ordentlich bezahlt. "Die Häuser haben ein Interesse daran, so etwas anzubieten", sagt Niethard, "und die Patienten gleiten in den operativen Bereich hinein".

Lösung könnte Zertifikatehandel sein

Die Wissenschaftler, zu denen auch Professor Thomas Felder von der Universität Basel und Professor Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen zählen, unterbreiten auch Lösungsansätze.

Ziel soll jeweils sein, die Leistungsmenge in den Krankenhäusern auf medizinisch induzierte Fälle zu begrenzen und die ökonomischen Anreize für medizinisch nicht begründete oder zu früh angesetzte Operationen zu verringern.

Einen gangbaren Weg sehen die Gutachter in mehr Selektivverträgen, in denen die beiderseitigen Kontrahierungszwänge für zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern ganz oder für Teile des Leistungsspektruims entfielen.

Was ist der Casemix?

Der Casemix entspricht der Summe aller nach Schweregraden gewichteten stationären Fälle auf DRG-Ebene.

Ein Beispiel: Im Jahr 2010 behandelten die Krankenhäuser rund 18 Millionen Patienten. Deren Erkrankungen wurden nach ihrer Schwere mit einem Faktor multipliziert. Leichte Krankheiten mit einem Faktor unter eins, schwerere mit Faktoren über eins. Daraus ergab sich in der Summe eine Zahl von 19 Millionen Casemixpunkten.

Wissenschaftler empfehlen, diese Punkte den Krankenhäusern zuzuordnen und in Form von Zertifikaten handelbar zu machen. Die Menge könne dann über die Ausgabe neuer Zertifikate zum Beispiel in Abhängigkeit von der Demografie gesteuert werden. (af)

Die zweite Empfehlung wäre Neuland für das Gesundheitswesen in Deutschland. Ein Zertifikatehandel für Casemixpunkte solle die Mengendynamik steuern. Casemixpunkte ergeben sich aus den nach Schwere gewichteten Fällen.

Krankenhäuser könnten dann nur noch im Umfang der ihnen zur Verfügung stehenden Zertifikate operieren lassen. Anderenfalls müssten sie hohe Abschläge in Kauf nehmen.

Der Zertifikatehandel führe zu mehr Wettbewerb und einem Handel der Zertifikate zwischen den Kliniken, prognostizieren die Wissenschaftler.

Der Handel könnte auch einen Ausbau ambulanter Leistungen auslösen, räumt Augurzky ein. Die Zertifikateknappheit könne den Druck auf die Klinikverwaltungen erhöhen, mehr ambulant behandeln zu lassen, um Zertifikate für tatsächlichen stationären Bedarf zu sparen.

Deutsche Krankenhausgesellschaft: Pauschale Verdächtigungen diffamierend

Sauer auf die Unterstellungen und Vorschläge reagierten die Vertreter der Krankenhäuser.

"Es wundert schon sehr, dass die Krankenkassen vor Ort mit den Krankenhäusern die Leistungen vereinbaren und dann der Bundesverband der Kassen hingeht und alles in Frage stellt", sagte der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Georg Baum.

Zudem würden die Vergütungen für die stationären Behandlungen jährlich zwischen dem GKV-Spitzenverband und der Deutschen Krankenhausgesellschaft neu vereinbart.

Sollte der Bundesverband der Kassen Erkenntnisse haben, dass Fallpauschalen zu hoch vergütet wrden, hätte die in der Selbstverwaltung verhandeln können.

"Die pauschale Verdächtigung, die Krankenhäuser würden aus nichtmedizinischen Gründen Patienten operieren, ist diffamierend," bezog Baum Stellung.

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