"Zum ersten Mal führt höherer Behandlungsbedarf zu mehr Geld"

Sechs Monate nach Einführung der Honorarreform zieht Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) im Interview mit der "Ärzte Zeitung" eine positive Zwischenbilanz: Im Vergleich zu 2007 werden die Vertragsärzte knapp vier Milliarden Euro mehr verdienen, so die Ministerin. Probleme bei der Umsetzung der Reform seien erkannt und würden abgestellt. Eine Alternative zu den Kassenärztlichen Vereinigungen sieht Schmidt derzeit nicht.

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Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) im Interview mit Chefredakteur Wolfgang van den Bergh (l. ) und Hauptstadtkorrespondent Bülent Erdogan (2.v.r.), rechts im Bild ihr Sprecher Klaus Vater.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) im Interview mit Chefredakteur Wolfgang van den Bergh (l. ) und Hauptstadtkorrespondent Bülent Erdogan (2.v.r.), rechts im Bild ihr Sprecher Klaus Vater.

© Fotos: Elke Hinkelbein

Ärzte Zeitung: Frau Schmidt, nach vorläufigen Zahlen haben die Vertragsärzte im ersten Quartal dieses Jahres rund neun Prozent mehr Honorar als im Vorjahr erhalten. Trotzdem gibt es in der Ärzteschaft weiter massiven Protest. Hat sich die Reform politisch gelohnt?

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt: "Wir werden zu einer neuen Aufgabenverteilung in der Medizin kommen müssen."

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© Foto: Elke Hinkelbein

Ulla Schmidt: Die Reform war notwendig, auch ihr Zeitpunkt. Hätten wir sie nicht zum 1. Januar eingeführt, wären wieder zwei Jahre ungenutzt ins Land gegangen. Ich glaube nicht, dass die Ärzte mit zwei weiteren Jahren Budgetierung besser gefahren wären.

Ärzte Zeitung: Dennoch sehen viele Ärzte in Ihnen einen Sündenbock, weil das Geld bei ihnen nicht ankommt.

Schmidt: Das Geld kommt doch an. Wenn die Abrechnungen des ersten Quartals endlich vorliegen, wird sich das auch zeigen. Bei Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten registriere ich viel Unterstützung. Fakt ist doch, dass das Volumen der ärztlichen Honorierung im Vergleich zu 2007 um fast vier Milliarden Euro ansteigen wird. Viele anfänglichen Probleme bei der Umsetzung der Reform sind inzwischen durch den Bewertungsausschuss und die Kassenärztlichen Vereinigungen vor Ort erkannt. Ab dem 1. Juli wird es eine Reihe an Korrekturen geben, etwa bei der Festlegung der Regelleistungsvolumina in den einzelnen Facharztgruppen. Fakt ist auch: Zum ersten Mal seit Einführung der Budgetierung wird ein erhöhter Behandlungsbedarf auch zu mehr Honorar für die Ärzte führen.

Ärzte Zeitung: À propos Honorar: Die Kassenärztlichen Vereinigungen müssen künftig alle drei Monate die Entwicklung der Ärztehonorare an Ihr Haus melden. Was bezwecken Sie damit?

Schmidt: Ich sehe darin ein Instrument zur Versachlichung der Debatte um die Honorarreform. Die Berichte werden außerdem die Chance eröffnen, ungerechte Verwerfungen in der innerärztlichen Honorarverteilung früher zu erkennen und gegenzusteuern.

Ärzte Zeitung: Sollen die Berichte Ihnen nicht einfach nur die Munition dafür liefern, den Ärzten überhöhte Honorare vorwerfen zu können?

Schmidt: Ich brauche keine „Munition“, wie Sie sagen, um über Honorarfragen zu sprechen. Jahresberichte über die ärztlichen Honorare gibt es ja schon längst. Es ist offenkundig, dass durchschnittlich über 200 000 Euro Honorar im Jahr vom Kassenarzt eingenommen werden. Das sagt noch nichts über den einzelnen Fall aus, weil die Honorarverteilung, Praxiskosten und andere Aspekte zu berücksichtigen sind. Mir geht es doch nicht darum, darüber zu richten, ob Ärzte zu viel verdienen oder nicht. Mir ist an einer guten Versorgung gelegen. Daher ist es notwendig, Schwachstellen zu erkennen und zu beheben. Denn nur so kann gewährleistet werden, dass sich angehende Ärzte weiter für das ganze medizinische Spektrum interessieren und einzelne Fachgebiete nicht verwaisen.

Ärzte Zeitung: Trotz eines kontinuierlichen Zuwachses an Medizinern warnen KBV und Bundesärztekammer vor einem Ärztemangel. Dieser betrifft sowohl ländliche Regionen als auch sozial schwache Stadtteile großer Städte. Ein Problem ist offenbar die Bedarfsplanung. Wann wird es hier Korrekturen geben?

Schmidt: Erste Schritte wurden mit Zuschlägen für Ärzte in unterversorgten Gebieten ab 2010 bereits gemacht. Richtig ist, dass die bisherige Bedarfsplanung weder die Über- noch die Unterversorgung verhindert hat. Deshalb halte ich Honoraranreize auf Dauer für das wirksamere Mittel zur Sicherstellung der flächendeckenden und wohnortnahen, haus- und fachärztlichen Versorgung in Deutschland.

Ärzte Zeitung: In Sachsen sollen angehende Mediziner eine Ausbildungshilfe in Höhe von bis zu 600 Euro erhalten, wenn sie sich verpflichten, sich anschließend vier Jahre in unterversorgten Gebieten niederzulassen. Lässt sich der Ärztemangel auf dem Land so beheben?

Schmidt: Es freut mich sehr, dass die Sachsen endlich ein Modell umsetzen, das ich seit fünf Jahren vorschlage. Ich bin davon überzeugt, dass 80 Prozent der geförderten Ärzte anschließend auch in der Region bleiben werden, weil sie vor Ort Freunde oder einen Partner finden, das Kind schon in den Kindergarten oder die Schule geht oder sie schlicht und einfach ihre Patienten schätzen gelernt haben.

Ärzte Zeitung: Reicht das aus?

Schmidt: Nein, schon beim Zugang zum Studium muss es weitere Auswahlkriterien als heute geben. Das derzeitige Auswahlverfahren rein nach Numerus clausus ist verfehlt. Genau so falsch war die Einführung von Studiengebühren. Statt Medizinstudenten zu belasten, sollten diese finanziell unterstützt werden, damit sie sich voll auf ihr Studium konzentrieren können. Und wir werden zu einer neuen Aufgabenverteilung in der Medizin kommen müssen.

Ärzte Zeitung: Was heißt das?

Schmidt: Viele Dinge, die der Arzt heute selbst erledigen muss, könnten auch durch Pflegekräfte oder Assistenten erledigt werden, zum Beispiel das Einlesen von Daten. Der Arzt von morgen soll sich wieder mehr Zeit für seinen Patienten, für Diagnose und Behandlungspläne nehmen können. Dass das Spitzengremium von KBV und Kassen das Gemeindeschwestermodell Agnes auf unterversorgte Gebiete beschränkt hat, ist für mich daher unverständlich.

Ärzte Zeitung: Die SPD bekennt sich in ihrem Wahlprogramm zum Konzept der Selektivverträge. Sollen diese Einzelverträge den Kollektivvertrag langfristig ersetzen?

Schmidt: Flächendeckende Selektivverträge ergeben meiner Ansicht nach nur im Hausarztbereich Sinn. Aber auch bei Teilnahme an diesen Verträgen bleiben die Ärzte Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigungen. Ziel der Selektivverträge ist es, über den Kollektivvertrag hinaus ein Mehr an Qualität und Service für die Versicherten zu erzielen – nicht aber, diesen zu ersetzen.

Ärzte Zeitung: Die KBV beklagt, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen durch Ihre Politik zum „Resteverwalter“ degradiert werden. Noch einmal: Wollen Sie die KVen auf kaltem Wege entsorgen?

Schmidt: Wer mich kennt, weiß, dass ich mit offenem Visier kämpfe. Sicher würde eine Abschaffung des KV-Systems mir kurzfristig viel Zustimmung einbringen. Auch könnte ich mir grundsätzlich durchaus eine eigenständige Hausarzt-KV vorstellen. Wenn die KVen die Interessen der Hausärzte nicht über Jahre ignoriert hätten, wäre der starke Drang der Hausärzteschaft nicht entstanden, die eigenen Belange eigenständig zu regeln. Eine Abschaffung der KVen löst jedoch die Probleme nicht, vor denen die ambulante Versorgung steht. Und was die Hausarzt-KV betrifft, hat sich der Gesetzgeber anders entschieden.

Ärzte Zeitung: Eines Ihrer Lieblingsprojekte sind die Hausarztverträge. Dem Deutschen Hausärzteverband haben Sie sogar eine von den Kassen heftig bekämpfte Monopolstellung eingeräumt. Die Stimmen nach einer Revision werden jetzt immer lauter. Folgt nach der Wahl eine Reform der Reform?

Schmidt: Die konkrete Formulierung in Paragraf 73b war ein Kompromiss, der 2008 auf Druck der Bayerischen Staatsregierung zustande kam. Ich halte aber nichts davon, je nach Großwetterlage an Gesetzen zu rütteln. Der Paragraf 73b steht. Mein Hauptanliegen ist, dass die Hausärzte ihre berechtigten Interessen selbst verfolgen können.

Ärzte Zeitung: Die Kassen spielen trotz der Pflicht zum Abschluss von Verträgen bis zum 30. Juni aber auf Zeit und schielen offenbar auf eine neue Regierung. Was ist Ihre Antwort auf diese Taktik?

Schmidt: Es ist in der Tat ein Unding, wenn sich der Chef einer großen Kasse hinstellt und sagt, dass er keine Verträge schließen werde, bis, ich zitiere: „sich der Gesetzgeber eines besseren besinnt“. Was ist das für ein Rechtsverständnis? Ich habe die Hausärzte deshalb dazu ermuntert, die in Paragraf 73b vorgesehenen Schiedsstellen anzurufen.

Ärzte Zeitung: Die Abrechnung der Verträge über Dienstleister außerhalb des KV-Systems ist nur bis zum 30. Juni 2010 gesichert. Die Zeit für eine umfassende gesetzliche Regelung zum Datenschutz ist äußerst knapp.

Schmidt: Das ist richtig.

Ärzte Zeitung: Droht damit das Aus für die Verträge?

Schmidt: Nein. Meiner Meinung nach ist eine langfristige Regelung bis dahin möglich. Leider hat der Koalitionspartner verhindert, dass wir dafür bis Ende 2010 Zeit haben. CDU und CSU hatten sogar vor, das Modell der Hausarztverträge – mit Ausnahme der bestehenden Verträge in Bayern und Baden-Württemberg – schon zum Ende dieses Monats zu kassieren. Der SPD-Teil der Koalition hat das verhindert.

Ärzte Zeitung: Wäre die Einführung eines Primärarztsystems nicht zielführender als der steinige Weg über 73b?

Schmidt: Die rot-grüne Koalition hatte 2003 ja ein Konzept für ein Primärarztsystem entwickelt. Dieses sah den kostenlosen Zugang der Versicherten zu Hausärzten, Dermatologen, HNO-Ärzten, Pädiatern oder Gynäkologen vor. Wer ohne Überweisung eines solchen Arztes zum Facharzt gehen wollte, sollte nach diesem Modell eine Praxisgebühr zahlen müssen. CDU/CSU haben das abgelehnt. Ergebnis war die allgemeine Praxisgebühr je Vierteljahr.

Ärzte Zeitung: Umfragen zufolge sorgen die neuen Verträge aber nicht für mehr Qualität. Erkennen die Bürger die Vorteile nicht, oder ist alles nur heiße Luft?

Schmidt: Wer sagt denn, dass etwa der Hausarztvertrag in Baden-Württemberg keine bessere Qualität bringt? Dass zum Beispiel 69 Prozent der Versicherten sich in diesen Modellen gut aufgehoben fühlen, finde ich positiv. Die Qualität zu sichern, ist Aufgabe der Vertragspartner. Die Kassen sind doch nicht daran gehindert, in diesen Verträgen bessere Qualität zu vereinbaren. Der Hausärzteverband ist dann verpflichtet, die Vertragsbedingungen auch einzuhalten – oder er fliegt raus.

Ärzte Zeitung: Die Kliniken greifen mit Medizinischen Versorgungszentren immer stärker nach der ambulanten Versorgung. Bleibt der niedergelassene Arzt am Ende auf der Strecke?

Schmidt: Mit diesem Thema werden immer wieder Ängste geschürt. Schaut man sich die Zahlen an, wird deutlich, dass die Mehrzahl der Zentren weiter in der Hand von Ärzten ist. Medizinische Versorgungszentren sollen die ambulante Versorgung ergänzen, aber nicht ersetzen. Sie sind sinnvoll in unterversorgten Gebieten, und sie sind geborene Zentren der integrierten Versorgung. Was wir nicht wollen, ist, dass sich die Kliniken über MVZ ihre Patienten zuweisen.

Ärzte Zeitung: Das Bundesverfassungsgericht hat der PKV eine Bestandsgarantie ausgesprochen. Haben Sie vom Konzept der Bürgerversicherung schon Abschied genommen?

Schmidt: Diese Interpretation verbreitet allein die PKV, sie wird von unabhängigen Juristen und Beobachtern nicht geteilt. Die Verfassungsrichter haben erstens entschieden, dass das Sozialstaatsprinzip über Unternehmensinteressen steht. Zweitens haben sie festgestellt, dass sich in einem System aus GKV und PKV auch die privaten Versicherer an den Kosten einer solidarischen Gesundheitsversorgung in Deutschland beteiligen müssen. Ich will die PKV nicht abschaffen, sondern einen fairen Ausgleich der Lasten über einen gemeinsamen Risikostrukturausgleich.

Das Interview führten Wolfgang van den Bergh und Bülent Erdogan

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