Polypharmazie bei Alten: Auch eine Chance!

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Altern und demografischer Wandel der Gesellschaft sind nichts primär Negatives, sagt der Nürnberger Geriater Professor Cornel Sieber. Man müsse dies verstärkt als Chance verstehen. Ähnlich steht er zur viel debattierten Polypharmazie.

Von Thomas Meissner

Polymedikation - ein viel diskutiertes Thema.

Polymedikation - ein viel diskutiertes Thema.

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NÜRNBERG / WIESBADEN. Die Diskussion um "die alternde Gesellschaft" ist in der Öffentlichkeit überwiegend negativ konnotiert. Der Begriff "Überalterung" suggeriert, es gebe zu viele alte Menschen.

"Dabei vergisst man, dass die Menschen heute älter werden können bei besserer Gesundheit und Funktionalität als früher", sagt Professor Cornel Sieber, der einen der in Deutschland wenigen Lehrstühle für Geriatrie an der Uni Erlangen-Nürnberg inne hat und die geriatrische Klinik am Klinikum Nürnberg leitet.

Hochaltrigkeit: nur zu einem Viertel genetisch bedingt

Hochaltrigkeit sei in unserer Gesellschaft mit gut ausgebautem Gesundheitswesen lediglich zu etwa einem Viertel genetisch bedingt, zu 75 Prozent sei sie modulierbar. Und davon wiederum machen einen guten Teil der biomedizinische Fortschritt und die medikamentöse Therapie aus.

"Ich finde es schade, dass man die Polypharmazie vor allem als Problem sieht", meint Sieber. Für ihn bietet die große Palette therapeutischer Optionen Chancen für alte Menschen, nämlich die Möglichkeit, Lebensqualität zu erhalten oder wiederzugewinnen. Daraus ergäben sich letztlich auch Chancen für die Gesellschaft.

Die Chancen pharmakologischer Natur zu nutzen ist allerdings eine komplexe Angelegenheit mit derzeit großem Verbesserungspotenzial. Mancher bezweifelt, dass man mit Leitlinien oder Medikamenten-Listen wie der Beers- oder Priscus-Liste in der Geriatrie weit kommt.

In Leitlinien fließen randomisierte kontrollierte Studien ein, die auf Monopathologien basieren, Studien, an denen zudem meist vergleichsweise junge Menschen teilgenommen haben.

Bei einem multimorbiden geriatrischen Patienten müssten also konsequenterweise mehrere Leitlinien Anwendung finden.

Da kann es passieren, dass eine 79-jährige Frau mit lediglich fünf chronischen Krankheiten theoretisch zwölf verschiedene Substanzen pro Tag in 18 Einzeldosen einnehmen müsste. Zusätzlich zu einem gegebenenfalls nichtpharmakologischen Programm, wie dies Dr. Cynthia M. Boyd von der Johns Hopkins Universität in Baltimore, Maryland, vor einigen Jahren plastisch dargestellt hat (JAMA 2005, 294: 716).

Sieber: Es braucht Leitlinien und Medikamenten-Listen

Es ist jedoch völlig unklar, inwieweit verschiedene Leitlinien einander konterkarieren und dazu führten, dass zusätzlich zu den bereits zu erwartenden Nebenwirkungen unerwünschte Effekte ausgelöst würden.

Dennoch, sagt Sieber, braucht es Leitlinien und er begrüßt auch Medikamenten-Listen wie die Priscus-Liste, zumal diese Alternativen zu den dort aufgezählten problematischen Medikamenten darstellt.

Denn sie geben Orientierung in einer individuell schwierigen Gemengelage von Zuständen. Sie seien hilfreich, solange sie nicht als Gesetze oder Gebrauchsanweisungen missverständen würden, betont der Nürnberger Geriater.

"Wir müssen individuell priorisieren. Und dazu muss man sich fragen: Welches ist die primäre Zielgröße für diesen hochbetagten Menschen?" Die klassischen Studienendpunkte wie Mortalitätsraten und Überlebenszeiten sind bei der Beantwortung dieser Frage für alte Menschen selten relevant.

"Für sie ist wichtig, Funktionalität und Selbstständigkeit zu erhalten oder wiederzubekommen, möglichst im häuslichen Umfeld", betont er.

Der Gesichtspunkt Lebensqualität wird in kontrollierten Studien derzeit nicht hinreichend abgebildet. Sieber ist überzeugt davon, dass es methodisch möglich ist, auch mit alten, multimorbiden Menschen aussagekräftige Studien zu entwerfen und nennt als Beispiele Untersuchungen zu den Themen Hypertonie, Schlaganfall, Osteoporose und Demenz.

Diese seien allerdings vergleichsweise aufwändig und teuer. Alter und Multimorbidität sind jedoch ein Faktum und damit auch die Notwendigkeit solcher Untersuchungen.

Lebensqualität in Studien nicht hinreichend abgebildet

Inzwischen fordert die europäische Zulassungsbehörde EMA, dass hochbetagte Menschen in die Neuentwicklung von Medikamenten eingeschlossen werden. Unklar ist, inwiefern geriatrische Zielparameter von Studien künftig durch das deutsche Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) berücksichtigt werden können.

Für die Fortentwicklung der Geriatrie in Deutschland sieht Sieber mittelfristig drei Hauptaufgaben: Erstens müssten verstärkt Geriater im universitären Umfeld ausgebildet werden - es gibt im Moment noch sehr wenige Geriatrie-Lehrstühle.

Zweitens sollten Berufseinsteiger die Möglichkeit haben, während ihrer Facharzt-Weiterbildung in geriatrische Abteilungen zu rotieren.

Und schließlich brauche es ausreichend Fortbildungsangebote für niedergelassene Kollegen, die in ihrem Studium kaum oder gar nicht mit geriatrische Fragestellungen konfrontiert waren.

Würden diese Wege beschritten, ergäben sich nicht nur im klinischen Umfeld, sondern auch in der ambulanten Versorgung zunehmend interdisziplinäre Strukturen, die für die erfolgreiche Bewältigung des Querschnittsfachs Geriatrie erforderlich sind.

Professor Cornel Sieber hält seinen Plenarvortrag "Multimorbidität im Alter" am 14. April 2012 um 14 Uhr in den Rhein-Main-Hallen Wiesbaden; Infos zum Internistenkongress: www.dgim2012.de

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