"Es ist gut, überbordende Gefühle auf der Leinwand zu verdinglichen"

Veröffentlicht:

Von Christian Beneker

Daß Künstler an ihrem Leben seelisch leiden müssen, um überhaupt kreativ sein zu können - das ist ein Allgemeinplatz. Daß seelisch Leidende Künstler werden, um überhaupt leben zu können - das ist ziemlich neu. Immer mehr psychiatrische Kliniken setzen deshalb auf die Kraft der Kreativität, mit Malerei, Theater, Musik, Schauspiel.

Patienten der Psychiatrischen Abteilung im Klinikum Hamburg Nord haben 1998 die Künstlergruppe "Kunst im Krankenhaus" (KIK) gegründet. Zur Zeit zeigt der Sponsor der 15köpfigen Gruppe, der Arzneimittelhersteller Lilly Deutschland GmbH, in ihrer Hamburger Niederlassung 50 Werke der KIK-Künstler.

"KIK and friends - Kunst als Ausdruck der Seele" lautet der Titel der Ausstellung und ist zugleich das Programm der Gruppe KIK. "Die Gruppe besteht aus Patienten, die nicht mehr im Krankenhaus wohnen und ihr Leben stabilisiert haben", sagt Claus Wächtler, Psychiater und Chefarzt der Gerontopsychiatrie im Klinikum Hamburg Nord. In der Tat sind die Bilder Ausdruck einer enormen Energieleistung - des Weges der Patienten zurück ins Leben.

"Ich überlasse alles dem Pinsel selbst"

Zum Beispiel Rolf Becker. "Geradlinig schematische Bilder könnte ich nicht malen", sagt er, die Baskenmütze schief auf dem Kopf, das Hemd halb geknöpft, Vollbart und lebhafte Augen; nicht eben geradlinig und schematisch. Er steht vor seinem Gemälde.

"Bauchtänzerin" heißt das Bild, das er in der Ausstellung zeigt. Wenn man es lange genug betrachtet, meint man, das Tamburin zu hören. "Das Bild setzt sich bei mir im Kopf wie ein Raster zusammen", sagt Becker, "dann lege ich los. Alles andere überlasse ich dem Pinsel selbst."

Oder Eva Maria de Decker. Sie hat in einem Stilleben ihr früheres Alkoholproblem dargestellt. Buchstäblich bis zum Hals versinkt eine Figur im Boden einer Flasche. Eine Gefangene der Flasche. Heute lebt auch Eva Maria de Decker nicht mehr in der Klinik. Das Malen hat ihr hinausgeholfen.

"Die positive Wirkung der Kunsttherapie ist von der Diagnose völlig unabhängig", sagt Wächtler. "Für alle Patienten gilt, daß es hilfreich ist, überbordende Gefühle zu integrieren. Wenn jemand zum Beispiel Angst hat, dann ist es gut, die Angst auf der Leinwand zu verdinglichen. Dann verliert die Angst etwas von ihrer Macht."

Abgesehen von der heilsamen Wirkung des künstlerischen Arbeitens, werden durch die KIK-Künstler und ihre Werke auch Vorurteile gegen psychisch Kranke abgebaut. Das Stigma "psychisch krank" könne überwunden werden, sagt Manfred Voepel, Leiter des Sozialdienstes im Klinikum Nord. Er ist Initiator und Gründer der Gruppe.

Anlaß und Anregung zu der Künstlergruppe war der Weltkongreß der Psychiatrie, der 1998 in Hamburg stattfand. Bis heute stellt das Krankenhaus der Künstlergruppe den Atelierraum zur Verfügung. "Aber die Gruppengröße bleibt wegen des begrenzten Platzes unverändert", sagt Voepel, "zwei Aspiranten stehen schon auf der Warteliste."

Das Projekt KIK zieht Kreise. Lilly Deutschland unterstützt das Projekt schon seit Jahren. Und kürzlich haben die KIK-Kreativen ein Beratungsstipendium des Unternehmensberaters McKinsey gewonnen. Beim Ideenwettbewerb des Vereins "startsocial", der sich um den Transfer wirtschaftlichen Know Hows in den Sozialen Bereich bemüht, wurde KIK als eine Initiative unter 540 Bewerbern ausgewählt.

Die KIK-Künstler planen Kontakt zu anderen Gruppen

Einen nächsten Schritt zum weiteren Ausbau der KIK-Idee haben Voepel und die 15 Künstler schon geplant. "Wie wollen uns verstärkt mit anderen, vergleichbaren Initiativen vernetzen."

So wollen die Hamburger Kontakt aufnehmen zum Bremer Blaumeier-Atelier, einer Einrichtung, in der geistig Behinderte zusammen mit nicht Behinderten musizieren, Theater und Kunst machen, oder zum Bielefelder Künstlerhaus Lydda, einem Projekt der Betheler Diakonie. Die Kunst, die den ehemaligen Psychiatrie-Patienten aus der Isolation der eigenen Seele herausgeholfen hat, ermutigt zu Kontakten.

"Daß ich bei allem Auf und Ab in meinem Leben den Lebensmut nicht verloren habe, verdanke ich meiner Seele", sagt Eva Maria de Decker zum Titel der Ausstellung. "Kommunikation ohne technische Hilfsmittel, ohne Worte, auf einer anderen Ebene, dies mit lieben Menschen zu tun, auch das ist für mich Seele."

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema
Das könnte Sie auch interessieren
Was die MS-Behandlung auszeichnet

© Suphansa Subruayying | iStock

Lebensqualität

Was die MS-Behandlung auszeichnet

Anzeige | Merck Healthcare Germany GmbH
Unsichtbare MS-Symptome im Fokus

© AscentXmedia | iStock

Lebensqualität

Unsichtbare MS-Symptome im Fokus

Anzeige | Merck Healthcare Germany GmbH
Prognostizierbares Therapieansprechen?

© Stockbyte | gettyimages (Symbolbild mit Fotomodellen)

Antidepressiva

Prognostizierbares Therapieansprechen?

Anzeige | Bayer Vital GmbH
Depression und Schmerz gehen häufig Hand in Hand

© brizmaker | iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

Depressionsscreening

Depression und Schmerz gehen häufig Hand in Hand

Anzeige | Bayer Vital GmbH
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
7-Jahres-Daten belegen günstiges Nutzen-Risiko-Profil von Ofatumumab

© Vink Fan / stock.adobe.com

Aktive schubförmige Multiple Sklerose

7-Jahres-Daten belegen günstiges Nutzen-Risiko-Profil von Ofatumumab

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Novartis Pharma GmbH, Nürnberg
Porträts: [M] Feldkamp; Luster | Hirn: grandeduc / stock.adobe.com

© Portraits: [M] Feldkamp; Luster | Hirn: grandeduc / stock.adobe.com

„ÄrzteTag extra“-Podcast

Die Schilddrüse tickt in jedem Lebensalter anders

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Frankfurt am Main
Abb. 1: Studie DECLARE-TIMI 58: primärer Endpunkt „kardiovaskulärer Tod oder Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz“ in der Gesamtkohorte

© Springer Medizin Verlag GmbH, modifiziert nach [4]

Diabetes mellitus Typ 2

Diabetes mellitus Typ 2 Präventiv statt reaktiv: Bei Typ-2-Diabetes mit Risikokonstellation Folgeerkrankungen verhindern

Sonderbericht | Beauftragt und finanziert durch: AstraZeneca GmbH, Hamburg
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Früherkennung

PSA-basiertes Prostatakrebs-Screening: Langzeitdaten belegen Nutzen

Red Flags

Rückenschmerz: Wer muss sofort ins MRT?

Lesetipps
Vier mittelalte Frauen laufen gemeinsam über eine Wiese und lachen.

© Monkey Business / stock.adobe.com

Wechseljahre

5 Mythen rund um die Perimenopause: Eine Gynäkologin klärt auf

Makro-Nahaufnahme eines Auges mit okulärer Rosazea.

© Audrius Merfeldas / stock.adobe.com

Schwere Komplikationen möglich

Augen-Rosazea: Erst sind’s die Lider, später auch die Hornhaut