Symptomatische Therapie bei MS soll Funktionsstörungen mindern

In Deutschland sind etwa 100 000 bis 120 000 Menschen an MS erkrankt. Zur symptomatischen Behandlung dieser Patienten hat die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Ende vergangenen Jahres erstmals ein Konsensuspapier veröffentlicht, das Therapieempfehlungen zu den zehn wichtigsten MS-Symptomen enthält, etwa bei Spastik. Basis der antispastischen Behandlung ist die regelmäßige Physiotherapie, ergänzt durch eine medikamentöse Therapie mit Baclofen, Tizanidin oder Gabapentin.

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Thomas Henze

Die Behandlung bei Multipler Sklerose (MS) beinhaltet in einem umfassenden Konzept die zwei großen Bereiche Immunmodulation und Immunsuppression sowie die symptomatische Therapie:

  • Immunmodulation und Immunsuppression haben zum Ziel, die "kausalen" immunpathologischen Vorgänge und damit die immunologische Aktivität zu beeinflussen. Hiermit können vor allem die Zahl der Schübe, die mit MRT nachgewiesenen frischen Läsionen im Zentralen Nervensystem und die Progression der Behinderung reduziert werden.
  • Die symptomatische Therapie mindert primär diejenigen Symptome, die als Folge der immunologischen Aktivität entstehen - besonders entzündlicher Läsionen, axonaler Degeneration und Atrophie - und die die funktionellen Fähigkeiten der Betroffenen und ihre Lebensqualität beeinträchtigen. Zudem können Folgeschäden und damit weitere Funktionsstörungen vermieden werden.

Die MS Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) hat in den vergangenen Jahren bereits mehrere umfassende Konsensusempfehlungen zur Therapie bei MS publiziert. Sie beziehen sich überwiegend auf die Behandlungsmöglichkeiten mit Immunmodulatoren und Immunsuppressiva und fassen die Ergebnisse vor allem der großen evidenzbasierten (EBM-) Therapiestudien zusammen.

Vor kurzem wurde eine weitere Leitlinie publiziert, die die vielfältigen symptomatischen Behandlungsmöglichkeiten bei MS zusammenfaßt, nach EBM-Kriterien sowie umfangreicher Experten-Diskussion bewertet und daraus strukturierte Empfehlungen entwickelt (Nervenarzt, 75, 2004, Suppl S2 - 38)*. Diese Leitlinien sind mittlerweile in Deutschland, Österreich und der Schweiz akzeptiert und auch mit den Fachgesellschaften elf weiterer europäischer Länder abgestimmt und publiziert (J Neurol, 251, 2004, 1329).

Immunmodulation / Immunsuppression

Nach diesen Leitlinien stehen als Basistherapie bei schubförmiger MS drei Beta-Interferone sowie Glatirameracetat zur Verfügung. Sie reduzieren vor allem die Schubfrequenz, die mit der MRT nachgewiesenen frischen Läsionen im Zentralnervensystem und die Progression der Behinderung. Die Substanzen müssen regelmäßig zumindest über mehrere Jahre - subkutan oder intramuskulär - injiziert werden.

Vier Immunmodulatoren für die MS-Therapie

Ein Interferon-beta-1b. Der Wirkstoff wird in E. coli synthetisiert und ist nicht glykosyliert.

  • Betaferon® (0,25mg) wird jeden zweiten Tag subkutan injiziert.

Zwei Interferon-beta-1a-Präparate. Der Wirkstoff wird in Säuger-Ovarzellen synthetisiert und ist wie das humane Zytokin glykoliert.

  • Avonex® (30 mg) wird einmal wöchentlich intramuskulär injiziert;
  • Rebif® (22 oder 44 mg) wird dreimal wöchentlich als subkutane Injektion verabreicht.

Ein synthetisches Tetrapeptid

  • Copaxone® (Glatirameracetat) 20 mg werden einmal täglich ausschließtlich subkutan injiziert.

Beta-Interferone und Glatirameracetat müssen regelmäßig über mehrere Jahre injiziert werden.

Bei Unverträglichkeit oder Vorbehalten gegenüber den häufigen Injektionen gelten hochdosierte Immunglobuline (IgG) und Azathioprin (zum Beispiel Imurek®) als Alternativen. Bei nicht ausreichendem Ansprechen auf die Basistherapie (keine Reduktion der Schubfrequenz, weitere Zunahme frischer ZNS-Herde, rasche Progredienz der Symptome) stehen mit Mitoxantron (Ralenova®) und Cyclophosphamid (etwa Endoxan®) Möglichkeiten zu einer Therapie-Eskalation zur Verfügung.

Derzeit werden mehrere neue Substanzen auf ihre immunmodulatorischen oder immunsuppressiven Effekte hin untersucht. Unter anderem läuft aktuell eine internationale Phase-III-Studie mit dem Purin-Nukleosid-Analogon Cladribin in oraler Formulierung bei 1200 Patienten. Cladribin soll die bei MS auftretende übermäßige Bildung von Lymphozyten verringern.

Das in den USA im November 2004 bereits zugelassene Natalizumab wurde vor wenigen Wochen von der Herstellerfirma zurückgezogen, nachdem zwei Fälle von progressiver multifokaler Leukenzephalopathie aufgetreten waren, von denen einer tödlich endete.

Die Behandlung des einzelnen Schubes erfolgt mit hochdosiertem Methylprednisolon (drei bis fünf Tage 500 - 1000 mg intravenös; etwa Medrate® Solubile, Urbason®). Die Behandlung kann - gegebenenfalls mit noch höherer Dosis - wiederholt werden, wenn zwei Wochen nach der ersten Therapie keine ausreichende Rückbildung funktionell wichtiger Symptome eingetreten ist.

Bei sehr schweren Schüben ist dann auch, in Absprache mit einem MS-Zentrum, eine Plasmapherese-Serie zu diskutieren. Die früher übliche niedrig dosierte Schubbehandlung mit oralen Steroiden über drei bis vier Wochen ist ebenso wie eine Langzeittherapie mit Prednisolon obsolet.

Hochtitrige neutralisierende Antikörper (NAB) gegen Beta-Interferone führen wahrscheinlich zu einer Abschwächung ihrer Wirksamkeit. Inwieweit dies allerdings über einen längeren Therapiezeitraum relevant ist, wurde bislang noch nicht ausreichend geklärt. Eine Untersuchung auf neutralisierende Antikörper ist derzeit lediglich dann zu empfehlen, wenn die MS unter Beta-Interferon-Therapie weiter fortschreitet.

Symptomatische Therapie

Auch in der symptomatischen Therapie MS-Kranker konnten in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte erzielt werden. Nicht immer wird allerdings - von Patienten wie von behandelnden Ärzten - der Zusammenhang von Symptomen wie der Fatigue, Schmerzen oder auch einer Schluckstörung mit der MS überhaupt hergestellt.

Auch bei bereits diagnostizierten Symptomen muß genau differenziert werden: So sollte etwa bei verschiedenen Formen von Blasenfunktionsstörungen auch unterschiedlich behandelt werden. Gleiches gilt bei den unterschiedlichen Formen der Spastik, bei verschiedenen Schmerztypen oder klinischen Varianten der Dysphagie sowie bei kognitiven Störungen et cetera.

Da in dieser kurzen Übersicht nicht auf alle Möglichkeiten der symptomatischen Therapie bei MS eingegangen werden kann, sollen die Behandlungsempfehlungen, wie sie im erwähnten Konsensuspapier für das Symptom "Spastik" entwickelt wurden, kurz dargestellt werden.

Bei der Spastik ist der Muskeltonus dauerhaft (tonische Spastik) oder intermittierend und dann oft verbunden mit einschießenden Schmerzen (phasische Spastik) erhöht. Das Symptom führt häufig zu Gangstörungen, Kontrakturen von Gelenken oder - in schweren Fällen - zu einer Behinderung der Blasenentleerung oder der Pflege (besonders bei Adduktorenspastik).

Durch eine antispastische Therapie sollen die motorischen Funktionen verbessert werden, ohne gleichzeitig den Muskeltonus zu stark zu reduzieren, da dieser bei vielen Patienten durchaus auch zu einer Stabilisierung bei gleichzeitiger Muskelschwäche beiträgt. Außerdem sollen spastik-bedingte Schmerzen reduziert, die Pflege erleichtert und Komplikationen vermieden werden.

Eine konsequente Therapie bei Harnwegsinfekten, Obstipation oder Schmerzen sind erste Behandlungsmaßnahmen, da sie eine Spastik auslösen oder verschlimmern können. Um die Körperhaltung und den Transfer, zum Beispiel vom Rollstuhl ins Bett oder umgekehrt, zu verbessern, gehört außerdem ein regelmäßiges Training entsprechender Techniken zu den Basismaßnahmen.

Grundlage der eigentlichen Therapie ist dann die Physiotherapie (Krankengymnastik), zum Beispiel nach Bobath oder Vojta. Diese Behandlungen sind - auch wenn sie bisher nicht nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin getestet wurden - sehr wirksam. Eine kontinuierliche und mehrmals wöchentliche Behandlung ist allerdings erforderlich.

Außerdem gibt es mittlerweile immer mehr Hinweise darauf, daß die Spastik auch mit Hilfe des Laufbandtrainings mit Körpergewichtsentlastung oder mit motorgetriebenen Fahrrädern effektiv reduziert werden kann. Nicht zuletzt können auch kühlende Maßnahmen die Spastik verringern.

Da die alleinige Physiotherapie oft nicht ausreicht, ist eine zusätzliche medikamentöse Therapie erforderlich. Diese wird nach vorliegenden evidenzbasierten Daten am ehesten mit Tizanidin (Sirdalud®, 2 - 24 mg / Tag) oder Baclofen (etwa Lioresal®, 5 - 120 mg /Tag) erfolgreich sein. Für Dantrolen und Tolperison liegen weniger gute Ergebnisse vor. Benzodiazepine, die ja einen guten antispastischen Effekt haben, sollten aufgrund ihrer unerwünschten Wirkungen möglichst vermieden werden.

Interessanterweise haben zwei kleinere Studien ergeben, daß das Antiepileptikum Gabapentin besonders die phasische Spastik wirksam reduzieren kann und mit nur geringen unerwünschten Wirkungen einhergeht (etwa Neurontin®, 300 - 3600 mg / Tag). Eigene Erfahrungen bestätigen diesen positiven Effekt. Für die derzeit diskutierte Therapie mit Cannabinoiden liegen - bezogen auf einen antispastischen Effekt - augenblicklich keine überzeugenden Daten vor.

Für die Behandlung bei fokaler Spastik, zum Beispiel bei einer Adduktorenspastik, eignet sich besonders Botulinumtoxin Typ A (Botox®, Dysport®), da es einerseits die Spastik wirksam verringert und andererseits die systemischen unerwünschten Wirkungen oraler Antispastika vermieden werden. Die Dosierung ist vom Ausmaß der Spastik und der Größe des betroffenen Muskels abhängig.

Auch die kontinuierliche intrathekale Infusion von Baclofen kann eine starke Paraspastik der Beine mindern, indem der muskuläre Tonus reduziert und die Zahl einschießender Spasmen verringert wird. Die Patienten können unter dieser Therapie meist leichter mobilisiert werden, so daß sie oft wieder im Rollstuhl sitzen und besser gepflegt werden können.

Einige Patienten können dann auch wieder kurzfristig stehen oder sogar einige Schritte mit Hilfsmitteln gehen. Die Behandlung erfordert aufgrund vieler Komplikationsmöglichkeiten allerdings große Erfahrung und konsequente Betreuung.

Die ebenfalls intrathekale Injektion von Triamcinolon (Volon A®, z.B. sechs Injektionen à 40 mg jeden dritten Tag) ist künftig eventuell eine weitere Möglichkeit, Patienten mit vorwiegend spinal ausgelöster Spastik zu behandeln, und besonders die Gehstrecke zu verlängern.

Aufgrund der publizierten wissenschaftlichen Daten gab die MSTKG die folgenden Empfehlungen zur Therapie bei Spastik:

  • Basis der antispastischen Behandlung ist die regelmäßige und intensive Physiotherapie.
  • Durch vorsichtige und individuelle Dosierung der oralen Antispastika Baclofen und Tizanidin kann zusätzlich versucht werden, eine spastische Tonuserhöhung so zu modifizieren, daß ein funktioneller Gewinn meßbar wird. Aufgrund der Datenlage ist auch eine Behandlung mit Gabapentin möglich; die Substanz ist derzeit allerdings noch nicht für diese Indikation zugelassen. Der Einsatz weiterer oraler Antispastika wie Benzodiazepine kann aufgrund möglicher unerwünschter Wirkungen nur in Ausnahmefällen befürwortet werden.
  • Als invasive Verfahren besitzen die lokale Applikation von Botulinumtoxin in der Behandlung von Patienten mit einer ausgeprägten Adduktorenspastik und die kontinuierliche intrathekale Applikation von Baclofen bei schwerster, anders nicht kontrollierbarer (Para-)Spastik einen gesicherten Stellenwert.
  • Die orale antispastische Behandlung mit Cannabinoiden und die intrathekale Applikation von Triamcinolon-Acetonid sollten derzeit nur von Ärzten / Kliniken mit großer Erfahrung in der MS-Therapie oder in Studien erfolgen.

* Das Konsensuspapier zur symptomatischen Therapie ist auf der Homepage der DMSG als pdf-File einsehbar unter: www.dmsg.de/index.php?kategorie=therapien&cnr=13&anr=835

Prof. Dr. Thomas Henze, Klinik am Regenbogen, Eichendorffstr. 21, 93149 Nittenau, Tel.: 09436 / 950-800, Fax: 950-919, E-Mail: t.henze@klinikamregenbogen.de

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