Großprojekt soll klären, warum Bandscheiben degenerieren

Rückenschmerzen gehören weltweit zu den kostspieligsten Krankheiten in der arbeitenden Bevölkerung. Häufig stehen sie in Zusammenhang mit Problemen, die auf degenerierte Bandscheiben zurückzuführen sind. Warum sie degenerieren, ob es dazu eine erbliche Veranlagung gibt und welche Bedeutung dabei die körperliche Belastung hat, soll in einem EU-geförderten Projekt geklärt werden.

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Seit Januar 2003 ist das Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik (Leiter Professor Lutz Claes) der Universität Ulm Mitglied eines europäischen Forschungsverbunds, der sich mit Bandscheibendegeneration befaßt (Intervertebral disc degeneration: interplay of ageing, environmental and genetic factors - EURODISC).

In dem Projekt wird die Bandscheibendegeneration im Zusammenhang mit dem Einfluß mechanischer Belastung, Alterung sowie genetischer Faktoren und mit Umgebungseinflüssen untersucht. Der Verbund setzt sich interdisziplinär aus zwei britischen Forschergruppen (Uni Oxford), einer griechischen (Athen), einer finnischen (Helsinki), einer niederländischen (Eindhoven) einer israelischen (Technion, Haifa) sowie der deutschen Gruppe an der Uni Ulm zusammen.

Die Europäische Union fördert das Projekt mit 2,4 Millionen Euro über einen Zeitraum von drei Jahren. Der Beitrag der Ulmer Gruppe, die von Dr. Cornelia Neidlinger-Wilke koordiniert wird, besteht in der Untersuchung mechanischer Einflüsse auf die Differenzierung von Bandscheibenzellen.

Wie ein Kissen zwischen den Wirbelkörpern

Für die mechanische Funktion der Wirbelsäule sind die Bandscheiben von besonderer Bedeutung. Gesunde Bandscheiben, die wie Kissen zwischen den knöchernen Wirbelkörpern liegen, verleihen der Wirbelsäule Beweglichkeit und Flexibilität. Aufnahme und Übertragung von Lasten zwischen den einzelnen Wirbelsäulensegmenten sowie die Absorption von Druck- und Stoßkräften gehören zu ihren umfangreichen Aufgaben.

Die Bandscheiben verteilen die Kräfte, die zwischen zwei Wirbeln auftreten, gleichmäßig und gewährleisten zugleich eine gelenkige Verbindung. Garanten dieser Funktionen sind die verschiedenen Gewebebestandteile der Bandscheiben, die Makromoleküle der Bandscheibenmatrix und letztlich die Zellen, die für die Synthese und Aufrechterhaltung dieser Matrix zuständig sind.

Der histologische Aufbau der Bandscheibe zeichnet sich durch zwei voneinander abhängige, aber morphologisch unterschiedliche Regionen aus. Das Innere der Bandscheibe besteht aus einem wasserreichen gelartigen Gewebe, dem relativ zellarmen Nucleus pulposus, der reich an verzweigten Riesenmolekülen - Proteoglykanen - ist. Diese verzweigten Molekülaggregate sind Voraussetzung für die große Wasserspeicherfähigkeit der Bandscheibe und verleihen dem Gewebe die große Widerstandskraft gegen Druckbelastung.

Der Nucleus ist von einem äußeren Ring aus zellreicherem faserhaltigem Gewebe umgeben, dem Anulus fibrosus, der aus Lamellen konzentrisch angeordneter Faserproteine, den Kollagenen besteht. Ähnlich angeordnet wie die Lamellen eines Autoreifens, sind die Anulusfasern imstande, den enormen Zugdehnungs- und Scherkräften, die bei Bewegungen der Wirbelsäule auftreten können, Widerstand zu leisten.

Mit der Degeneration sinkt auch der Druckwiderstand

Wenn Bandscheiben degenerieren - ein Prozeß, der schon in relativ jungen Jahren beginnt -, verändert sich das Gewebe in vielfältiger Hinsicht. Die Wasseraufnahmefähigkeit der Bandscheibe wird geringer, und damit sinkt der Druckwiderstand. Das zunehmende "Austrocknen" der Bandscheibe verändert die physiologischen und biomechanischen Eigenschaften des Gewebes. Die Ursachen dieser altersbedingten Veränderungen sind noch unklar. Verringerte Nährstoffversorgung des Gewebes dürfte ebenso beteiligt sein wie biomechanische und genetische Einflüsse. EURODISC soll die unbeantworteten Fragen in einem Netzwerk von Untersuchungsansätzen bearbeiten.

Hydrostatischer Druck und zyklische Dehnung

Die Ulmer Gruppe simuliert die In-vivo-Belastungen der verschiedenen Bandscheibenregionen (Anulus fibrosus und Nucleus pulposus), um die spezifischen Zellreaktionen zu untersuchen. Dazu werden aus Bandscheibengewebe von Patienten, die wegen eines Bandscheibenvorfalls oder aufgrund einer Unfallverletzung operiert wurden, Zellen isoliert und in mehreren Versuchsvarianten unter verschiedenen Kulturbedingungen mechanisch belastet.

Das Interesse der Forscher gilt dem Einfluß von wechselndem hydrostatischem Druck und zyklischer Dehnung auf die Zellreaktionen. Die mechanischen Stimulationsparameter basieren auf In-vitro- und In-vivo-Messungen zur Bandscheibenbelastung, die ebenfalls in Ulm, in der Arbeitsgruppe von Professor Hans-Joachim Wilke gemacht wurden, sowie auf mathematischen Modellrechnungen zur Bandscheibenbelastung.

Unter den hier zu beobachtenden Zellreaktionen sind vor allem die Expression und Synthese von Faktoren zu verstehen, die sich am Auf- und Abbau der Bandscheibenmatrix beteiligen. In Zusammenarbeit mit der griechischen Gruppe am Demokritos-Institut in Athen werden zudem Wachstumsfaktoren, Signalmoleküle und Signalwege, die Regulatoren der Zellreaktionen, bestimmt.

Mit Hilfe einer Datenbank, in die alle beteiligten Gruppen ihre Forschungsergebnisse eingeben, sollen die histologischen, biochemischen, zell- und molekulargenetischen (degenerationsassoziierte Polymorphismen) Ergebnisse mit den klinischen Befunden der Bandscheiben-Spender sowie die Faktoren Alter, Degeneration, Genetik und Umwelt untereinander korreliert werden.

Parallel werden auch Versuche mit Rinderzellen gemacht

Da gesundes Bandscheibengewebe nur in sehr begrenztem Umfang für die Untersuchungen zur Verfügung steht, werden parallel zu den Untersuchungen an Human-Zellen auch Modellversuche an Zellen aus Rinderbandscheiben vorgenommen. Das Material wurde in langjährigen Studien von Dr. Jill Urban an der Universität Oxford charakterisiert. Es eignet sich aufgrund ähnlicher In-vitro-Reaktionen wie humane Bandscheibenzellen für viele Grundlagenuntersuchungen.

Die EURODISC-Forschergruppe veranstaltet im Juni 2004 einen Workshop, bei dem die Ergebnisse der ersten Hälfte des Projekts vorgestellt und diskutiert werden. Das Ulmer Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik wird Gastgeber dieses Meetings sein.

Dieser Beitrag ist zuerst in "uni ulm intern" (265/11, 2003, 8) veröffentlicht worden.



STICHWORT

EURODISC

In der EURODISC-Studie soll die Ätiopathogenese der Bandscheiben-Degeneration erforscht werden. Die an dem Projekt beteiligten Forscher von sieben Instituten wollen die Wechselwirkung zwischen der Bandscheibendegeneration einerseits sowie dem Alter, den Genen und Umweltfaktoren andererseits untersuchen. Aus den gewonnenen Daten sollen Diagnose-Hilfsmittel für die klinische Anwendung sowie völlig neue Diagnosemöglichkeiten entwickelt werden. Darüber hinaus erhofft man sich neue Therapie-Ansätze für Patienten mit Bandscheibendegeneration oder Spinalstenosen.

An dem Projekt beteiligt sind Klinikärzte, Neurochirurgen, Grundlagenforscher und Vertreter von Unternehmen, in denen Mikroelektroden für die Diagnostik und Bandscheibenprothesen entwickelt werden. Das Projekt ist ein von der Europäischen Union gefördertes "Life Quality"-Projekt mit einer Laufzeit von drei Jahren, das im Dezember 2005 enden wird. Beteiligt sind Forscher aus Großbritannien, den Niederlanden, Finnland, Griechenland, Israel und Deutschland. (eb)

Weitere Infos im Internet unter www.physiol.ox.ac.uk/EURODISC

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