"Eine Ausstellung, die betroffen macht und unter die Haut geht"

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Es brauchte nicht viel, um als erbkrank und lebensunwürdig diffamiert zu werden: Manchmal war es nur ein Streit mit den falschen Leuten oder ein Alkoholiker in der Familie. Es sind Ungeheuerlichkeiten aus dem Alltag des nationalsozialistischen Regimes, die eine Ausstellung im nordrhein-westfälischen Hauptstaatsarchiv Detmold zeigt. Die Schau unter dem Titel "Lebensunwert, Zerstörtes Leben" widmet sich den Zwangssterilisierten im Dritten Reich.

Allein in Ostwestfalen traf dieses Schicksal 231 Menschen. Darunter auch der 80jährige Hans Heißenberg: Als Halbwaise verbringt er als Kind seine ersten Lebensjahre im Diakonissenhaus in Detmold. Mutter und Zwillingsbruder starben kurz nach der Geburt.

Sein Vater saß wegen "Blutschande" zeitweise im Gefängnis. Im Alter von drei Jahren wird Hans in eine Heilanstalt in Lemgo gegeben. Hier wächst er auf, besucht die Hilfsschule und muß sich dort einer Zwangsterilisation unterziehen. "Es gab gar keine Alternative. Sie zwangen mich", erinnert er sich. Die Begründung für den Eingriff lautete: "Schwachsinn".

Besonders die Zeit danach sei ihm im Gedächtnis geblieben. Die Jahre, die er als Pflegling bei einem Bauern in der Region verbracht hat, waren mit harter Arbeit, dürftiger Verpflegung, physischer und psychischer Gewalt verbunden. "Ich bin da auch ein paar Mal weggelaufen, weil ich Angst hatte, was noch kommt. Da bin ich einmal zu Fuß bis nach Hannover zu meinem Bruder gelaufen. Bei der Polizei hieß es dann: ‚Hans sei vernünftig, geh wieder zurück. Wenn sie dich hier finden, nehmen sie auch deinen Bruder mit‘." Nach Jahren der Erniedrigung verhalf der Vormund dem bereits 48jährigen zur gesetzlichen Unabhängigkeit.

"Es ist eine Ausstellung, die betroffen macht und die den Leuten unter die Haut geht", sagt Archivdezernent Johannes Kistenich. Im Mittelpunkt der Schau stehen 15 Tafeln des Bundes der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten. Viele Grafiken und Berichte informieren zum Thema und erinnern an die 300 000 Menschen, die das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten nicht überlebten.

Ein Aspekt der Ausstellung, welcher der Geschäftsführerin und stellvertretenden Vorsitzenden Margret Hamm besonders wichtig ist, ist die Entschädigungspolitik in der Bundesrepublik. "Noch immer ist die Opfergruppe der Zwangssterilisierten und Euthanasie-Geschädigten innerhalb der Entschädigungshierarchie ganz unten. Da ihnen bis heute der Status der NS-Verfolgten verweigert wird, werden sie nach dem Allgemeinen Kriegsfolgegesetz entschädigt."

Bislang haben von den 700 000 Betroffenen nur 16 000 zwangssterilisierte Menschen und 150 Euthanasie-Geschädigte eine Ausgleichszahlung erhalten, rechnet sie vor. Es gelte schnell zu handeln, sagt Hamm. "Von den ehemals 1000 Mitgliedern betreuen wir heute nur noch 600." Eine moralische Geste sei überfällig, die das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses annulliere. Auch eine finanzielle Entschädigung für die Opfer müsse erreicht werden. (dpa)

Bis 19. März, Erich Maria Remarque-Friedenszentrum, Markt 6, Osnabrück, Telefon 0541/323-2109, dienstags bis freitags von zehn bis 13 Uhr und 15 bis 17 Uhr, am Wochenende von elf bis 17 Uhr.

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