Roman über Alte und Verstümmelte, "die es nicht zu retten lohnt"

Von Ralf E. Krüger Veröffentlicht:

Ein Schicksalschlag aus heiterem Himmel macht aus dem rüstigen Fotografen Paul Rayment unwiderbringlich einen alternden Krüppel. Ein jugendlicher Heißsporn hinterm Steuer hat Paul, einen Australier französischer Abstammung, vom Fahrrad gefegt.

Eine Sekunde der Unachtsamkeit, die sein Leben verändert: Das rechte Bein muß amputiert werden. Der drahtige Paul gehört damit auf einmal zu den "Alten, die es sich nicht zu retten lohnt - es lohnt sich nicht, ihr Kniegelenk zu retten, ihr Leben zu retten".

Der erste Roman seit der Verleihung des Nobelpreises

So beginnt J.M. Coetzees jüngster Roman "Zeitlupe" - der erste, seit ihm 2003 der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde. Der seit einigen Jahren in der australischen Stadt Adelaide lebende Südafrikaner, der auch mit 65 selbst noch immer leidenschaftlicher Radfahrer ist, entfaltet die Handlung seines Werks auf mehreren Ebenen gleichzeitig. So langsam sich sein Protagonist nach seinem Unfall nur noch fortbewegen kann, so turbulent wird sein Leben.

Wehmütig diagnostiziert Paul den eigenen Verfall: "Der Mann, der er einmal gewesen ist, ist nur eine Erinnerung." Er kommt zum Fazit: "Wenn du bisher ein Mensch gewesen bist, mit einem Menschenleben, so sei von nun an ein Hund, mit einem Hundeleben."

Coetzee begibt sich im weiteren Verlauf der Handlung auf das von ihm geschätzte Feld der Allegorie und Anspielung, bei dem es um die gequälte Kreatur, um Leid und Alter geht. Ob philosophische Meditation, Kritik an zeitgenössischem Ex-und-Hopp-Denken oder provozierende Bilanz eines alten Nörglers: Es ist ein Roman, in dem es vor allem um moralische Balance und gegenseitigen Respekt geht.

Der Protagonist Paul lehnt nach einer Serie von Demütigungen trotzig Prothesen ab und verliebt sich unglücklich in seine jüngere, aber verheiratete kroatische Krankenschwester. Der zudem unter seiner Kinderlosigkeit leidende Fotograf versucht letztlich, deren Familie unter seine Fittiche zu nehmen und ihrem Sohn die Schule zu finanzieren.

Eine ambivalente Abhängigkeit bahnt sich an, bei der das von Coetzee so oft skizzierte Verhältnis zwischen Herrn und Untergebenem auf den Kopf gestellt wird. Schließlich stellt Coetzee dem mit dem Schicksal hadernden Krüppel auch noch die gleichnamige Heldin seines letzten Werks "Elizabeth Costello" zur Seite.

Die Akademikerin und Autorin aus Melbourne drängt sich völlig unsentimental ins Leben von Paul Rayment, der stark nach dem Autor selbst geraten zu sein scheint. Er ruft Menschen auf den Plan, die daran leiden, als Alte und Verstümmelte eines Teils ihrer Menschlichkeit und Würde beraubt worden zu sein.

Eine davon ist eine blinde und sexuell aushungerte Schönheit, die sich Paul hingibt. Der Lahme und die Blinde: "Es gleicht einem primitiven biologischen Experiment - als brächte man verschiedene Arten zusammen, um zu sehen, ob sie sich paaren, Fuchs und Wal, Grille und Pinseläffchen."

Künstlerisches Handeln als Prothese

Die unbequeme Costello, die das Treffen arrangierte, entpuppt sich als ebenso beherzte wie nervige Klette. Sie reflektiert über den Schreibprozeß, über das Leben, das Entstehen von Kunst.

Das Wochenblatt "Mail & Guardian" aus Coetzees südafrikanischer Heimat kommt zu dem Fazit: "Coetzee zwingt uns mit diesem Element, das zu akzeptieren, was wir sonst lieber nicht akzeptieren würden: daß künstlerisches Handeln selbst Fälschung, Prothese ist." (dpa)

J. M. Coetzee: "Zeitlupe" - Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 303 Seiten, 18,90 Euro ISBN 3-10-010833-7

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