Marburg

Das "Mekka der Blinden"

Bus fahren, putzen, studieren: Was für Sehende selbstverständlich ist, ist für Blinde oft eine Herausforderung. In Marburg lernen junge Sehbehinderte, den Alltag alleine zu meistern.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:
Eine Studentin stellt einem blinden Studenten in der Uni-Mensa Marburg Essen zusammen.

Eine Studentin stellt einem blinden Studenten in der Uni-Mensa Marburg Essen zusammen.

© Georg Kronenberg

Marburg. Die jungen Leute mit den weißen Langstöcken sind Nachbarn, Kommilitonen und selbstverständlicher Teil des Straßenbildes: In keiner anderen deutschen Stadt gibt es im Verhältnis zur Bevölkerung so viele blinde und sehbehinderte Menschen wie in Marburg.

Von hier aus traten die akustischen Ampeln und die weißen Langstöcke ihren Siegeszug an. Schon seit Jahrzehnten gibt es sprechende Aufzüge, plastische Stadtpläne und Speisekarten in Punktschrift. Zu verdanken hat die Universitätsstadt dies der Deutschen Blindenstudienanstalt (Blista), die hier bereits vor 100 Jahren gegründet wurde. Vom 1. bis zum 3. Juli feiert sie ihr Jubiläum nun mit einem Festival.

Ursprung nach dem Ersten Weltkrieg

Auslöser für die Gründung der Blista waren die vielen jungen Soldaten, die blind aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrten. Die meisten hatten ihr Augenlicht durch die neue Kriegsführung verloren - als Folge von Minen, Handgranaten, stark splitternden Geschossen, Giftgas und Schützengräben, in denen die Soldaten mit erhobenem Kopf lagen.

Viele von ihnen landeten in Marburg, wo Professor Alfred Bielschowsky (1871-1940) als Direktor der Universitäts-Augenklinik eine eigene Abteilung für Kriegsblinde einrichtete. Der herausragende Forscher und Sohn jüdischer Kaufleute erkannte jedoch schnell, dass Medizin allein nicht reichen würde, wenn die jungen Männer in Zukunft nicht nur betteln und Körbe flechten sollten.

Unter den Heimkehrern waren auch viele Gymnasiasten, Studenten und Akademiker. Bielschowsky organisierte Kurse für Blindenschrift, kümmerte sich um Unterkünfte, Literatur und Hilfsmittel.

Unterricht für die Kriegsblinden

Dazu engagierte er den Studenten Carl Strehl (1886-1971), der selbst fast seine gesamte Sehkraft bei einer Explosion in einem New Yorker Chemielabor verloren hatte. Nun unterrichtete Strehl die Kriegsblinden in der nach dem französischen Pädagogen benannten Brailleschrift.

Um eine höhere Bildung zu ermöglichen, wurden 1916 der Verein blinder Akademiker und die Deutsche Blindenstudienanstalt gegründet. Bielschowsky wurde ehrenamtlicher Direktor der Blista. Strehl übernahm die Geschäftsführung. Ab 1927 wirkte er als Direktor, was er fast 40 Jahre lang blieb.

Die Carl-Strehl-Schule - das weltweit erste Gymnasium für blinde und sehbehinderte Jugendliche - ist bis heute der Kern der Blista, die insgesamt 400 Mitarbeiter hat. Mit viel Sport, Mobilitätstraining und speziellem Unterricht bereiten sich hier 280 blinde und sehbehinderte Jugendliche auf das Arbeitsleben vor. Sie werden - einzigartig in Deutschland - schon ab Klasse 5 aufgenommen.

Mit ihren Konzepten ist die Blindenstudienanstalt seit Jahrzehnten Vorreiter: Die Jugendlichen leben in rund 40 über die Stadt verteilten, betreuten Wohngemeinschaften. Dadurch gehören Bus fahren, Freunde besuchen, essen, ohne zu kleckern, kochen, Wäsche waschen, staubsaugen und putzen zum Programm.

Im Unterricht wird möglichst viel durch Experimente gelernt. Was beim Sehen fehlt, wird durch eigenes Fühlen, Hören oder Riechen ersetzt. So gibt es Modelle, um Erdbeben zu verstehen, Menschenfiguren zum Auseinandernehmen, Moleküle zum Zusammenstecken. Strom und Farben werden zu Tönen. Stickoxyd wird geschnuppert. Im Unterricht verstecken kann man sich nicht. Die Klassen sind nämlich mit sechs bis zwölf Schülern außergewöhnlich klein.

Integration in normalen Schulen oft schwierig

Die meisten der aus ganz Deutschland kommenden Jugendlichen teilen die Erfahrung, dass eine Integration in normalen Gymnasien oft schwierig ist. An der Blista sind Hilfsmittel wie Computer mit Braillezeile und Sprachausgabe, Bildschirmlesegeräte und Lupenbrillen, Literatur in Blindenschrift und Screenreader mit Vergrößerungssoftware selbstverständlich.

In Marburg lernen sie Sportarten, die man ihnen sonst oft nicht zugetraut: Neben Reiten, Schwimmen und Radfahren gehören auch Judo, Rudern, Surfen, Skifahren und Fußballspielen zum Programm. Dazu kommen viele Exkursionen, Theaterspiel und Praktika. Dadurch sind die Blista-Schüler sehr erfolgreich: Beim Zentralabitur entsprechen ihre Noten dem Bundesdurchschnitt. Das Gros findet nach dem Abschluss einen Job.

Berühmte Absolventen hat die Blista: Die fünffache Goldmedaillen-Gewinnerin bei den Paralympics, Verena Bentele, ist seit 2014 Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Sabriye Tenberken reiste allein nach Tibet, wo sie eine Blindenschule gründete und auf den Nachbarberg des Mount Everet stieg. Die Nachwuchskomponistin Sarah Pisek errang einen Bambi. Dazu kommen bekannte Schauspielerinnen, Sänger, Reporter, Politiker und Juristen.

Zugleich ist die Blista heute ein bundesweites Kompetenzzentrum mit Angeboten für Jung und Alt: In der Hörbücherei können blinde und sehbehinderte Menschen aus ganz Deutschland 48.000 Bücher und Zeitschriften kostenlos ausleihen. Im Reha-Zentrum gibt es neben den Schulungen in Orientierung, Mobilität und lebenspraktischen Fähigkeiten auch Seniorenberatung, Frühförderung und eine staatlich anerkannte Fachschule für Rehalehrkräfte.

Jeder dritte blinde Student in Marburg

Auch die Marburger Philipps-Universität hat heute hervorragende Bedingungen für Sehbehinderte: Ein Drittel aller blinden Hochschüler Deutschlands studiert in Marburg. Nirgendwo sonst können blinde und sehbehinderte Menschen so viele Fächer belegen. Besonders häufig sind sie in Psychologie, Pädagogik und Jura anzutreffen. Aber sie wagen sich auch an Naturwissenschaften wie Biologie und Chemie. Gemeinsam mit der Blista wird der Weiterbildungsstudiengang Blinden- und Sehbehindertenpädagogik angeboten.

Eigens engagierte Hilfskräfte unterstützen ihre blinden Kommilitonen bei der Literatursuche in der Universitätsbibliothek, bei Internetrecherchen und beim Sichten der Bücher. Die Uni-Servicestelle für behinderte Studierende bietet einen Dienst zum Umwandeln von Texten in für Blinde lesbare Dateien an. Die Einrichtung informiert über Themen wie Eingliederungs- und Mobilitätshilfe und hilft bei Problemen mit Professoren, Prüfungen und Paragrafen.

Fast alle Aufzüge an der Uni sprechen. Die Knöpfe der Fahrstühle, die Eingänge vieler Hörsäle und manche Kaffeeautomaten sind mit tastbaren Punkten ausgerüstet. Prüfungsordnungen und Bafög-Informationen sind in Blindenschrift vorhanden. In Instituten und Bibliotheken stehen PC-Arbeitsplätze mit Sprachausgabe, Braillezeile und Großschrift.

Sehende Hilfskräfte stellen Mensa-Tablett zusammen

Zur Mensa führen tastbare Leitstreifen. Und jeden Mittag steht eine studentische Hilfskraft am Info-Point, um blinde Studierende zur Essensausgabe zu führen, die richtigen Beilagen aufs Tablett zu stellen und einen freien Platz an den Tischen zu ergattern.

Auch diese Hilfsangebote ermöglichen Blinden und Sehbehinderten in Marburg, so zügig durch die Gassen zu spazieren, dass sie Sehende überholen. Scheinbar mühelos finden sie sich in Bussen und Behörden zurecht. Daher passiert es in Marburg selten, dass Blinde wider Willen über die Straße geführt werden. Man muss auch nicht erklären, dass Blinde studieren können. Und man darf, so sagen Blista-Schüler, auch einmal schlecht über einen Blinden sprechen.

Im Jubiläumsjahr veranstaltet die Blindenstudienanstalt vom 1. bis 3. Juli das größte Festival für blinde Menschen in Europa. Neben dem Festakt steht der Sport im Mittelpunkt. Die sehbehinderten Besucher können Tandem fahren, klettern, Trampolin springen, Kanu fahren, Torball und Fußball spielen, tanzen, schießen und auf dem Verkehrsübungsplatz Auto fahren.

Es gibt einen Markt der Begegnungen, EM-Viertelfinalspiele mit Audiodeskription und zahlreiche Workshops, wobei die Themen von barrierefreiem Reisen über Mode und Schminken bis zu Naturheilkunde, Astrologie und Skat reichen. Für Stimmung sorgen Konzerte, Hörfilmkino, Punktschriftlesungen, und "Speed-Dating".

Ausstellung erzählt aus Geschichte der Stadt

Noch bis zum 4. Dezember ist darüber hinaus die inklusive, interaktive und hörbar lebendige Ausstellung "blick:punkte" im Marburger Landgrafenschloss zu sehen. Barrierefrei erzählen sieben Themeninseln von der Entwicklung der Blista, von Mythen, Machern - und damit vor allem dem Miteinander von blinden und sehenden Menschen.

Die Ausstellung ist von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Führungen gibt es auf Anfrage (Telefon 06421-606105, besuch@blista.de). Weitere Informationen zum Festival unter www.dbsv-festival.de.

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