Richtgrößen: Seehofer treibt den Beelzebub aus

Sie werden heute selten exekutiert - eher noch immer als scheinbar probates Droh- und Disziplinierungsmittel eingesetzt: Richtgrößen für Arznei- und Heilmittel. Ihr Risikopotenzial wurde schon 1997 diskutiert.

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Die dritte Stufe

Essen, im März 1997. Karl-Heinz Schönbach, ehemals Vertragschef des BKK-Bundesverbandes und federführend in der Arzneimittelversorgung, hatte ein einfaches Weltbild - Schuld an Problemen sind immer die anderen.

Schönbach: "Die KVen haben die unternehmenspolitische Aufgabe des Managements der Arzneimittelbudgets nicht angenommen, im Osten sollten sie an die Wand gefahren werden."

Als Beleg präsentierte er Ende März 1997 ein Tableau zur Budgetvertragssituation: Danach hatten nur drei von 18 KVen für 1997 eine Budget-Vereinbarung.

Wie eine Recherche der "Ärzte Zeitung" ergab, war Schönbachs Tableau voller Fehler: Nicht drei, sondern vier KVen hatten Verträge, in allen anderen KVen waren Budgetverhandlungen gescheitert, die Auseinandersetzungen lagen beim Schiedsamt oder den Sozialgerichten.

Damit konfrontiert, wurde Schönbach kleinlaut: "Wir müssen als Kassen aufpassen, dass wir nicht das Image einer Pommes-Bude bekommen."

Der Unterschied zur Kiosk-Wirtschaft: Für die Krankenkassen ging und geht es um Milliarden-Beträge. Mit Genugtuung hatte die gesetzliche Krankenversicherung die Erträge aus einer Zwei-Milliarden-DM Budget-Unterschreitung 1993 eingesackt und die Hände in den Schoß gelegt.

Aus Angst, in einen Kollektivregress zu geraten, hatten die Vertragsärzte 1993 eine Vollbremsung hingelegt. Das konnte nicht jedes Jahr wiederholt werden.

Aus Richtgrößen werden Richtschwerter

Lange Zeit konnten die Kassen die Budgets überhaupt nicht KV-bezogen abrechnen. Als schließlich Daten vorlagen, wurden diese angezweifelt. Neue Budgets wurden nicht vereinbart.

So kumulierten sich Budgetüberschreitungen - bis sie uneinbringbare Höhen erreicht hatten.

Juristisch wurde immer zweifelhafter, wie Kollektivregresse auf Ärzte umgelegt werden sollten - auch auf jene Ärzte, die keine Medikamente verordnen? Der Teufel steckte im Detail.

Schon mit dem Gesundheitsstruktur-Gesetz (GSG), das 1993 in Kraft getreten war, hatte Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer Kassen und KVen eine Option gegeben, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben: Budgetablösende Richtgrößen.

Mit dem nach monatelangem Tauziehen im März 1997 verabschiedeten 2. Neuordnungsgesetz (NOG) konnten arztgruppenspezifische Richtgrößen für Arznei- und Heilmittel sowohl getrennt als auch gemeinsam vereinbart werden.

Diese Art der Individualsteuerung setzte sich nach 1997 allmählich durch, zumal die Budgets völlig wirkungslos waren und von Ulla Schmidt 2001 abgeschafft wurden.

Aber schon 1997 schwante Schönbach und dem KBV-Vorstand Dr. Jürgen Bausch, dass für Ärzte mit schwer kranken Patienten massive Risiken entstehen könnten. Schönbach: "Dann werden aus Richtgrößen Richtschwerter".

Bis heute wirkt das nach: Dr. Jan Geldmacher, einst KV-Funktionär und Arzneimittelspezialist im Bundesausschuss, seit kurzem wieder als Hausarzt niedergelassen, kassierte als erstes einen Arzneiregress in fünfstelliger Höhe. Beelzebub lebt. (HL)

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