Interview

"Der größte Patient ist das Gesundheitssystem"

Seit Mitte Juli steht mit Barbara Steffens erstmals eine Grüne an der Spitze des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums. Im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" nennt sie die Bedingungen, unter denen Ärzte in Nordrhein-Westfalen arbeiten, "nicht akzeptabel". Allerdings: Gleiches gilt für die immer neuen Kapriolen der Selbstverwaltung bei der Honorarverteilung. Da habe die Ärzteschaft "viele Hausaufgaben vor sich".

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Barbara Steffens: "Wir haben nie gefragt: Was macht das Gesundheitssystem mit den Menschen?"

Barbara Steffens: "Wir haben nie gefragt: Was macht das Gesundheitssystem mit den Menschen?"

© Sonja Werner (2)

Ärzte Zeitung: Sie haben sich gleich bei Ihrem Amtsantritt für eine gerechte Vergütung der nordrhein-westfälischen Ärzte stark gemacht. Reicht die jetzt beschlossene asymmetrische Honorarverteilung Ihrer Einschätzung nach aus, um die Benachteiligung der vergangenen Monate auszugleichen?

Barbara Steffens: Es ist gut, dass die Abstände zu den anderen Bundesländern etwas geringer werden, aber sie sind immer noch zu groß. Es ist nicht akzeptabel, dass bestimmte Arztgruppen 20, 25 oder 30 Euro pro Fall weniger bekommen.

Und zwar nicht nur für mich als Ministerin, sondern auch für mich als Patientin. Ich bezahle denselben Versicherungsbeitrag wie andere Versicherte meiner Einkommensgruppe. Warum bekommt mein Arzt oder meine Ärztin dafür deutlich weniger als ihre Kollegen in anderen Bundesländern?

Ärzte Zeitung: Planen Sie gemeinsame Aktionen mit den Ärzten?

Steffens: Es müssen jetzt erst einmal die Zahlen auf den Tisch, dann können wir die nächsten Schritte überlegen. Ich unterstütze alle Bemühungen um eine gerechte Honorarverteilung. Was ich aber nicht unterstütze, sind Proteste zu Lasten der Versicherten.

Gemeinsamer Widerstand ja, aber nur wenn wir die Patienten mitnehmen. Sie wollen sich schließlich mit ihren Ärzten solidarisieren. Wenn 18 Millionen Menschen da stehen und im Bund sagen "18 Millionen Versicherte aus Nordrhein-Westfalen zeigen Euch die rote Karte", dann ist das ein ganz anderes Machtpotenzial.

Ärzte Zeitung: Wie sehen Sie Ihre Rolle im Gesundheitswesen?

Steffens: Als Landesministerin kann ich nicht die Rahmenbedingungen verändern. Aber ich kann unsere Positionen im Bundesrat einbringen. Auf der anderen Seite kann ich im Land selbst eine moderierende Rolle übernehmen und überall dort Anstöße geben, wo Dinge falsch laufen. Außerdem sehe ich mich als Vertreterin der Patientinnen und Patienten und möchte eine neue grundsätzliche Diskussion anstoßen.

"Gemeinsamer Widerstand ja, aber nur wenn wir die Patienten mitnehmen."

In den vergangenen Jahren ist die Debatte über das Gesundheitswesen fast ausschließlich unter Sparaspekten und Effizienzgesichtspunkten geführt worden. Wir haben aber nie gefragt: Was macht das System mit den Menschen?

Wenn ich versuche, von draußen auf das Gesundheitssystem zu gucken, dann habe ich das Gefühl: Der größte Patient, den wir haben, ist das Gesundheitssystem selbst. Das ist nämlich völlig krank.

Wir haben versucht, das System effizient zu gestalten, aber wir haben es kaputt gespart an vielen Stellen. Ich möchte, dass wieder der Mensch ins Zentrum rückt, das heißt, ich werde mich für ein menschlicheres Gesundheitssystem einsetzen.

Ärzte Zeitung: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat angekündigt, dass sie sich im nächsten Jahr das Gesundheitswesen in Nordrhein-Westfalen ansehen will. Was sollte sich Merkel anschauen?

Steffens: Ich möchte nicht, dass sich Frau Merkel nur die Sahnestückchen ansieht, also die Praxen, die trotz schlechter Bedingungen gut zurechtkommen. Man muss der Kanzlerin zeigen, dass wegen der defizitären Finanzierung in Nordrhein-Westfalen möglicherweise Praxen schließen müssen.

Ärztinnen und Ärzte, die am Existenzminimum herumkrebsen, sollten den Mut haben, Frau Merkel in ihre Praxen einzuladen. Sie soll sehen, dass es nicht nur in den östlichen Bundesländern schwierig ist, sondern dass wir in Nordrhein-Westfalen unsere Ärzte unter Bedingungen arbeiten lassen, die so nicht akzeptabel sind.

Ärzte Zeitung: Glauben Sie, dass auch die Selbstverwaltung ein Stück Verantwortung trägt für die Lage?

Barbara Steffens

Aktuelle Position:
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Privates:

Steffens: Die Selbstverwaltung ist seit Jahren nur mit Verteilungskämpfen beschäftigt. Eigentlich müsste die Ärzteschaft jetzt sagen: Wir stellen uns komplett neu auf und überlegen, was ein gerechtes Vergütungssystem ist, und zwar eines, das auch den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten gerecht wird.

Ich glaube, da hat die Selbstverwaltung noch viele Hausaufgaben vor sich. Es kann nicht sein, dass die Selbstverwaltung es nicht schafft, auf eine nachvollziehbare, transparente und gerechte Weise zu verwalten. Ich hoffe jedenfalls, dass sich die Ärzteschaft an einen Tisch setzt und versucht, die Probleme gemeinsam zu lösen.

Was im Gesundheitswesen vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des wachsenden Kostendrucks auf uns zukommt, kann man nur bewältigen, wenn man ganz breite Brücken schlägt und sich breit aufstellt.

Die Fragen stellten Ilse Schlingensiepen und Anja Krüger.

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