Ungewöhnliche Stresstests am Uniklinikum Dresden

Am Dresdner Uniklinikum wird an einem Simulator das Operieren geübt. Um Technik geht es dabei weniger - sondern darum, dem Chef die Meinung zu sagen.

Von Thomas Trappe Veröffentlicht:
Der Arzt Dr. Michael Müller (l.) und der Psychologe Mike Hänsel mit dem Simulationspatienten. Sie haben das Projekt in Dresden initiiert.

Der Arzt Dr. Michael Müller (l.) und der Psychologe Mike Hänsel mit dem Simulationspatienten. Sie haben das Projekt in Dresden initiiert.

© Trappe

DRESDEN. Piloten wissen es besser, und zwar seit Jahrzehnten. "Die sind uns Medizinern drei Dekaden voraus", sagt Dr. Michael Müller, Anästhesist an der Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie am Universitätsklinikum Dresden. Er spricht vom psychologischen Ernstfalltraining, das seit langem Bestandteil der Übungen in Flugsimulatoren sei - und in der medizinischen Ausbildung bisher kaum eine Rolle spiele.

"Dabei stürzen Flugzeuge aus den gleichen Gründen ab, warum Patienten auf dem OP-Tisch sterben. Weil in psychologischen Ausnahmesituationen falsche Entscheidungen getroffen werden." In Dresden arbeitet Müller nun daran, die Zahl falscher Entscheidungen in Operationssälen zu reduzieren. Geübt wird in einem Simulationsraum. Und mit psychologischer Begleitung.

Fehler passieren bei bis zu zehn Prozent der Patienten

Die Zusammenarbeit zwischen Müller und dem Psychologen Mike Hänsel begann 2005. Müller arbeitete damals an einem Trainingsprogramm zur Schulung von Anästhesisten und Notfallmedizinern und stellte fest, dass großer Nachholbedarf im psychologischen Bereich sei.

Mike Hänsel bereitete in der Zeit gerade seine Diplomarbeit vor, er interessierte sich für die gleichen Fragen wie der Anästhesist. Die Kooperation war geboren, mündete in eine Projektarbeit und ist heute in Form eines neuen Curriculums an der Uniklinik institutionalisiert. In einem Simulationszentrum, das mit OP-Saal, Intensivstation und Schockraum ausgestattet ist, üben die Teilnehmer, wie sich in schwierigen Situationen folgenschwere Fehler vermeiden lassen.

Zwischen fünf und zehn Prozent aller Patienten sind während ihres Klinik-Aufenthalts von Komplikationen betroffen, die auf Fehler von Ärzten oder Pflegepersonal zurückzuführen sind, schätzt das Uniklinikum. Es sind Fehler, die vermeidbar wären, würden sie im Team abgesprochen, meint Müller.

Das geschehe allerdings sehr häufig nicht, weil Hierarchie im OP eine Redebarriere sei. Es gehe beim psychologischen Training im Simulationsraum also vor allem darum, Bedenken anzusprechen - selbst dann, wenn ein Vorgesetzter sie begangen hat. Wieder bemüht Müller das vorbildliche Pilotentraining. "Wenn dort ein Co-Pilot etwas bemerkt und er denkt, der Pilot hat es auch bemerkt - dann spricht er es trotzdem an."

Rund 1,5 Millionen Euro wurden für den Simulationsraum ausgegeben. Knapp 300.000 Euro kostet allein der simulierte Patient, der auf Medikamentengaben reagiert und sogar sprechen kann. Konzipiert sind solche Simulationen für das technische Training, auch das findet am Uniklinikum statt.

Bei den Seminaren unter der Leitung des Psychologen und des Anästhesisten steht aber etwas Anderes im Vordergrund: Die Teamarbeit, die Prozesse der Entscheidungsfindung, die Absprachen zwischen den Teilnehmern während der simulierten OP. Maximal vier Teilnehmer trainieren, weitere Mediziner sind Statisten, über einen Monitor wird das Verhalten im OP-Saal von Hänsel und Müller beobachtet und dann zusammen nachbesprochen.

Chefs müssen lernen, Widerspruch zu ertragen

Fester Bestandteil der Übung ist eine Stress-Simulation, in der es darauf ankommt, einem Vorgesetzten zu widersprechen. So kann zum Beispiel während der simulierten OP ein Oberarzt in den Raum stürmen und Anweisungen geben, die den Klinikstandards widersprechen. Ob und wie sich die Untergebenen, junge Assistenzärzte, aber auch Pflegekräfte, widersetzen, ist dann Thema der abschließenden Beurteilung. Es ist die praktische Prüfung der Kenntnisse, die im Curriculum zuvor durch Mike Hänsel vermittelt wurden.

Nach wie vor, berichten Müller und Hänsel, sei es nicht leicht, Ärzte von der Notwendigkeit eines psychologischen Trainings zu überzeugen. "Es gibt da eindeutig Vorbehalte", so Hänsel. Der Simulator sei für ihn ein Türöffner, sagt er. "Wenn Mediziner Simulator hören, sind sie Feuer und Flamme, das anschließende psychologische Training nehmen sie dann einfach in Kauf." Die Einstellung ändere sich aber im Laufe des Kurses fast immer, es scheine bei angehenden Ärzten einen Bedarf an psychologischer Anleitung zu geben.

Beide Kursleiter finden deshalb auch, dass diesem Lehrbereich im Medizinstudium ein "höherer Stellenwert" eingeräumt werden sollte. Am Uniklinikum sei dies bereits geschehen, indem alle Mitarbeiter vom Pfleger bis zum Chefarzt am Training teilnehmen. "Anders bringt es auch nichts", sagt Müller.

Schließlich ergebe es nur Sinn, den Widerspruch gegen den Oberarzt zu erlernen, wenn der ebenfalls gelernt hat, diesen Widerspruch zu akzeptieren. Gerade wird in der Klinik eine Transferbefragung organisiert. Mit ihr soll festgestellt werden, wie weit sich durch das Training die Problemlösungsstrategien im OP-Saal geändert haben.

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