Beliebte Haltestelle, aber ein Bus hält hier nie

Nur wenige Akutkrankenhäuser sind auf die Bedürfnisse von Demenzpatienten eingerichtet. In Neumünster hat das Friedrich-Ebert-Krankenhaus die Demenz-Musterstation "Ü 76" geschaffen - mit einer Bushaltestellen- Attrappe auf der Station.

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Von Dirk Schnack

NEUMÜNSTER. Ein dementer Patient wird mit Blaulicht ins Krankenhaus eingeliefert. Er weiß weder seinen Namen, noch das Datum, kennt nicht einmal seine Familie. Aber er hat Angst, weil er in ein unbekanntes Haus mit langen Fluren und weißen Wänden gebracht wird, wo ihm verkleidete Menschen Schmerzen zufügen wollen.

Demenzpatienten erleben dies täglich in Deutschlands Kliniken. "Krankenhäuser", sagt Geriater Dr. Werner Hofmann, "sind der denkbar schlechteste Aufenthaltsort für Demenzkranke." Und doch müssen sie eingeliefert werden, häufig mit Sturzverletzungen. Und sie werden immer mehr: Deutlich über 30 Prozent der älteren Klinikpatienten, die mit Herzinfarkt, Infektion oder Schenkelhalsfraktur aufgenommen werden, leiden auch an einer Demenz.

Ü 76 soll Sicherheit und Ordnung vermitteln

Im Krankenhaus bringen sie die Abläufe gehörig durcheinander, weil die Akutkliniken nicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt sind. So kommt es vor, dass die Patienten nachts umher wandern und nach Hause wollen und am nächsten Morgen lange schlafen - was den Pflegekräften den verdichteten Arbeitsalltag zusätzlich erschwert.

An der Haltestelle finden Dr. Meike Reh und Dr. Werner Hofmann Patienten wieder.

An der Haltestelle finden Dr. Meike Reh und Dr. Werner Hofmann Patienten wieder.

© Foto: di

Das Friedrich-Ebert-Krankenhaus (FEK) in Neumünster hat aus solchen Erfahrungen gelernt. Chefarzt Hofmann hat zwölf seiner über 70 Geriatriebetten umgewidmet und die Station "Ü 76" geschaffen, eine geriatrische Frührehabilitation. Oberärztin Dr. Meike Reh hat sich bei der Einrichtung an den Bedürfnissen der Patienten orientiert. Ü 76 soll den Patienten ein Gefühl von Sicherheit und Ordnung vermitteln und dabei einen geschützten, aber nicht geschlossenen Aufenthalt gewährleisten.

Das wird erreicht, in dem etwa die Tür an der Station von innen nicht ohne weiteres zu erkennen ist. Farbe und Material unterscheiden sich nicht von der Wand daneben, nur der Griff verrät den Ausgang. Der aber ist nur in Verbindung mit einem Schalter zu bedienen - für Demenzpatienten ist ein Weglaufen damit erschwert. Der Fußbodenbelag vor dem Ausgang ist ein runder dunkler Fleck. Im abgedunkelten Licht halten verwirrte Patienten diese Stelle für ein schwarzes Loch, das sie meiden.

Gewürzpflanzen sollen Erinnerungen wachrufen

Weil sie aber oft nach Hause möchten, setzen sie sich an die Bushaltestelle. Reh hat eine Attrappe mitten auf der Station aufbauen lassen. An anderen Krankenhäusern, berichtet sie, findet das Personal manche vermisste Patienten tatsächlich an echten Bushaltestellen wieder.

Auch sonst unterscheidet sich in Ü 76 einiges von anderen Klinikstationen: Die Patienten werden nicht früh morgens geweckt, sondern dürfen ausschlafen und spät frühstücken. Warme Farben an den Wänden wirken beruhigend auf die oft verängstigten Patienten. Ihre Zimmer sind separat beleuchtet, damit sie sie nach einem nächtlichen Ausflug auf der Station wieder finden. Im Bad sorgen LED-Leuchten rund um die Uhr für Orientierung. Ein Kochtraining und Gewürzpflanzen im Gemeinschaftsraum sollen den Geruchssinn stimulieren und Erinnerungen wachrufen. Im DVD-Regal finden sich Filme wie "Die oberen Zehntausend", ein Klassiker aus dem Jahr 1956. Auch Filmmusik wie etwa "True love" von Bing Crosby und Grace Kelly hilft, Erinnerungen wach zu rufen.

Der Personalschlüssel ist höher als auf den anderen Stationen. Pflegeleiterin Jana Lahann räumt ein, dass anfangs die Bereitschaft der Kollegen, auf der neuen Station zu arbeiten, begrenzt war - die Demenzpatienten erfordern hohe Motivation und Geduld. Als das spezielle Konzept der Station bekannt wurde, stieg die Bereitschaft.

Die Pflegekräfte arbeiten eng mit verschiedenen Therapeuten zusammen. Reh will mit all diesen Maßnahmen erreichen, dass sich die Station an den Rhythmus der Patienten anpasst und nicht - wie sonst üblich - umgekehrt. Auch Angehörige können auf der Station übernachten, was aber nach Auskunft Hoffmanns nicht oft genutzt wird - die Belastung im Alltag ist für viele Angehörige so hoch, dass der Aufenthalt des dementen Patienten im FEK für sie eine Auszeit bedeutet. Hofmann würde seine Musterstation gerne erweitern, wenn die Kostenträger mitspielen. Schon kurz nach der Eröffnung zeichnet sich ab, dass die zwölf Betten ständig belegt sind.

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