Junge Flüchtlinge

Sehr oft Karies und Belastungsstörung

Hunderte Flüchtlinge sind in den vergangenen Tagen mit Zügen aus Ungarn angekommen. Die Lage in München ist dramatisch - und die medizinische Versorgung dringend nötig, wie eine neue Studie zeigt.

Von Jürgen Stoschek und Jana Kötter Veröffentlicht:
Angekommen - und doch nicht: Flüchtlingskinder in München.

Angekommen - und doch nicht: Flüchtlingskinder in München.

© Kneffel / dpa

MÜNCHEN. Die medizinische Versorgung minderjähriger Flüchtlinge wird angesichts der nicht abreißenden Flüchtlingsströme, die im Süden Deutschlands ankommen, ein immer dringlicheres Problem.

Hunderte Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Pakistan oder Albanien sind in München angekommen, nachdem die Polizei am Ostbahnhof von Budapest ihre Ausreise geduldet hat.

2000 waren es nach Angaben der Bundespolizei bereits bis zum Dienstagmorgen, Hunderte mehr wurden erwartet.

Nach UN-Angaben versuchen dabei auch immer mehr Frauen und Kinder, über die Balkan-Route in die nördlichen EU-Länder zu gelangen.

Von den etwa 3000 Flüchtlingen, die derzeit täglich von Griechenland aus Mazedonien durchqueren, seien rund ein Drittel Frauen und Kinder, teilte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) mit.

Dies seien etwa dreimal so viel wie noch vor drei Monaten. Zudem seien etwa 12 Prozent der über Mazedonien fliehenden Frauen schwanger.

80 Prozent der Kinder sind krank

Die Zahlen belegen, wie wichtig insbesondere die medizinische Versorgung der minderjährigen Flüchtlinge ist - ebenso wie eine noch unveröffentlichte Studie, die am Dienstag im Vorfeld des am 2. September beginnenden Kinder- und Jugendärztekongresses 2015 in München vorgestellt wurde.

Über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus Syrien, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, haben demnach eine körperliche Krankheit. Bei zehn Prozent der Minderjährigen besteht akuter Behandlungsbedarf.

Nach der Studie, an der 100 Flüchtlingskinder aus Syrien teilnahmen und die von einer syrischen Ärztin untersucht wurden, leiden 22 Prozent unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und 16 Prozent unter einer Anpassungsstörung.

Ursache dafür sind vor allem die Fluchtgründe, nämlich Krieg und Gewalt, der Verlust der Wohnung sowie die zum Teil dramatischen Umstände der Flucht, berichtete Professor Volker Mall vom kbo-Kinderzentrum in München und Lehrstuhlinhaber für Sozialpädiatrie an der TU München.

60 Prozent der begleiteten und unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge seien mehr als zehn Monate unterwegs gewesen, bis sie in Deutschland Aufnahme gefunden haben.

Nach Malls Angaben besteht aber auch bei anderen Flüchtlingskindern ein erhöhtes Risiko für posttraumatische Belastungsstörungen, da die Diagnose zu einem frühen Untersuchungszeitpunkt, etwa in einer Erstaufnahmeeinrichtung, häufig noch gar nicht gestellt werden kann.

"Da die zugewanderten Kinder viel durchgemacht haben, sind wohl die meisten von ihnen posttraumatisch sehr stark belastet", sagte Mall.

Willkommenskultur kann helfen

Eine Willkommenskultur könnte dazu beitragen, dass nicht alle betroffenen Kinder behandlungsbedürftig werden. Andererseits können Proteste vor und Anschläge auf Aufnahmeeinrichtungen zu einer Re-Traumatisierung führen.

Auch ein unklarer Aufenthaltsstatus, die Trennung von Bezugspersonen sowie Diskriminierung erhöhen das Risiko für die Entwicklung eines Vollbildes der PTBS deutlich.

Bei den somatischen Erkrankungen sind Karies mit 63 Prozent und ein defizitärer Impfstatus bei 42 Prozent der Flüchtlinge besonders häufig. Jedes vierte Flüchtlingskind leidet unter einer Atemwegserkrankung.

Bei elf Prozent wurden infektiöse oder parasitäre Erkrankungen gefunden. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen sollten standardisierte Früherkennungsuntersuchungen speziell für Flüchtlingskinder entwickelt werden, forderte Mall.

Die Bedeutung seiner Forderungen reicht dabei weit über München hinaus: Auch in Stuttgart und Frankfurt am Main sind am Dienstag insgesamt rund 200 Flüchtlinge in Zügen angekommen.

So viele Flüchtlinge seien noch nie auf einmal angekommen, sagte ein Sprecher der Bundespolizei.

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