Soll und Haben in der Gesundheitspolitik

Was haben Union und FDP an selbstgesetzten Hausaufgaben erledigt, wo blieben sie in Formelkompromissen stecken und was wurde liegengelassen? Ein Überblick.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Guido Westerwelle (FDP), Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) stellen am 26. Oktober 2009 den Vertrag vor.

Guido Westerwelle (FDP), Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) stellen am 26. Oktober 2009 den Vertrag vor.

© dpa

Soll die Leistungsbilanz einer Regierung gemessen werden, dann ist die Opposition nur bedingt eine geeignete Bewertungsinstanz. Deren Aufgabe ist es schließlich, die Exekutive in einem möglichst ungünstigen Licht erscheinen zu lassen.

Fair wird eine Bilanz dann, wenn man die selbstgesteckten Maßstäbe der Regierenden zum Ausgangspunkt der Analyse nimmt. Und diese sind im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP niedergelegt.

Am 26. Oktober 2009 stellten FDP-Chef Guido Westerwelle, Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer den Vertrag vor. Überschrieben ist das rund 130-seitige Papier mit "Wachstum - Bildung - Zusammenhalt".

Mehr als zwei Jahre nach Antritt der Regierung zeigt eine Analyse ausgewählter Themen des gesundheitspolitischen Kapitels, dass die Koalition bei vielen Baustellen hinter den selbstgesteckten Zielen zurückbleibt.

Die Gründe sind vielfältig. An vielen Punkten wird aber offenbar, dass der programmatische Konsens der selbsternannten Traum-Koalitionäre brüchig ist.

Dann dominieren Formelkompromisse - oder eine "Politik der ruhigen Hand", bei der Themen erst gar nicht angepackt werden.

Die To-do-Liste der Regierung ist noch lang

   So steht es im
Koalitionsvertrag
Das hat die
Regierung erreicht
Diese Baustellen
sind noch offen
Prävention
  Prävention muss zu allererst bei Kindern und Jugendlichen ansetzen. (...) Zielgruppenspezifische Aufklärung soll dazu beitragen, Eigenverantwortlichkeit und Gesundheitsbewusstsein zu stärken. Unsere Präventionsstrategie wird Vorhandenes bewerten und aufeinander abstimmen, nationale und internationale Erfahrungen und Erkenntnisse analysieren. (...) Dazu bedarf es einer klaren Aufgaben- und Finanzverteilung.
Die Koalition hat bislang kein Präventionsgesetz vorgelegt - und hat auch nicht die Absicht dazu. Unter dem Dach einer "Strategie zur Förderung der Kindergesundheit" hat die Regierung größtenteils Modell- und Forschungsprojekte gebündelt. Eine kohärente Präventionsstrategie ist nicht erkennbar. Initiativen einzelner Abgeordneter, ein übergeordnetes "Aktionsprogramm" zur Präventionspolitik vorzulegen, fanden keinen Widerhall in der Regierung. Es mangelt in der Präventionspolitik nicht an Modell- oder Forschungsprojekten, wohl aber an einer Bund, Länder und Gemeinden übergreifenden Strategie. Fraglich ist auch, ob die vorhandenen Mittel zielgerichtet eingesetzt werden: Von den 311 Millionen Euro, die die Kassen 2010 für Prävention ausgegeben haben, flossen 81 Prozent in die individuelle Prävention für Versicherte. Grüne und SPD blieben bislang mit ihren Forderungen nach einem Gesetz ungehört.
GKV-Finanzen
  Langfristig wird das bestehende Ausgleichssystem überführt in eine Ordnung mit mehr Beitragsautonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten und einkommensabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden. Weil wir eine weitgehende Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest. Nach mehrmonatigem Zögern wegen der Landtagswahl in NRW setzte die Koalition mit dem GKV-Änderungsgesetz zunächst auf klassische Kostendämpfung. Das Anfang 2011 in Kraft getretene GKV-Finanzierungsgesetz schreibt den Arbeitgeberanteil fest und entdeckelt die Zusatzbeiträge. Alle künftigen Kostensteigerungen, die in Zusatzbeiträgen münden, tragen die Versicherten. Die anhaltenden Differenzen zwischen CSU und FDP haben ein Hybridmodell für die GKV-Finanzierung hervorgebracht, das von den ursprünglichen Plänen für eine "Gesundheitsprämie" weit entfernt ist. Umgesetzt wurde die Festschreibung des Arbeitgeberanteils. Der Ernstfall, ob der komplizierte Sozialausgleich tatsächlich greift, wird frühestens 2013 eintreten. Vorher sind flächendeckende Zusatzbeiträge nicht zu erwarten.
Arzneimittel
  Die Vielzahl der sich zum Teil widersprechenden Instrumente, die den Arzneimittelmarkt regeln, werden wir überprüfen. Die Überregulierung wird abgebaut. Der Arzneimittelmarkt wird unter patienten-, mittelstandsfreundlichen und wettbewerblichen Kriterien effizient neu geordnet. Getrieben von einem drohenden hohen GKV-Defizit, hat die Regierung vor allem auf Kostendämpfung und Zwangsrabatte gesetzt. Mit der frühen Nutzenbewertung im Arzneigesetz AMNOG dagegen hat die Koalition ein Instrument geschaffen, an dessen Durchsetzung vergangene Regierungen gescheitert sind. Von einem Abbau von Überregulierung im Arzneimittelmarkt kann bislang keine Rede sein. Wieder abgeschaffte Regelungen wie das Zweitmeinungsverfahren oder Bonus-Malus waren eher kosmetischer Natur. Dort, wo Wahlfreiheiten der Versicherten gestärkt werden sollten - wie bei der Mehrkostenregelung - entsteht nur neue Bürokratie.
Pflege
  Wir wollen eine neue, differenzierte Definition der Pflegebedürftigkeit. Es liegen bereits gute Ansätze vor, die Pflegebedürftigkeit neu zu klassifizieren. (...) Wir brauchen neben dem bestehenden Umlageverfahren eine Ergänzung durch Kapitaldeckung, die verpflichtend, individualisiert und generationengerecht gestaltet sein muss. Das Schicksal der Pflegereform ist ungewiss. Die im November 2011 vorgelegten Eckpunkte spiegeln nur einen Minimalkompromiss. Angesichts des Widerstands in der CSU hat die Regierung auf die Bildung einer verpflichtenden, kapitalgedeckten zweiten Finanzierungssäule verzichtet und erhöht stattdessen den Pflege-Beitragssatz. Die Regierung geht bei der Definition der Pflegebedürftigkeit auf Null zurück und will erneut eine Fachkommission einsetzen, die bereits unter Ulla Schmidt tätig war. Bei der Finanzierung kauft die Koalition durch einen höheren Beitragssatz lediglich Zeit. Von einer nach eigener Maßgabe "generationengerechten" Finanzierung ist sie weit entfernt.
Patientenrechte
  Die Versicherten sollen in die Lage versetzt werden, möglichst selbständig ihre Rechte gegenüber den Krankenkassen und Leistungserbringern wahrzunehmen. Aus diesem Grund soll eine unabhängige Beratung von Patienten ausgebaut werden. (...) Die Patientenrechte wollen wir in einem eigenen Patientenschutzgesetz bündeln, das wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten am Gesundheitswesen erarbeiten werden.
Ursprünglich sollte bereits 2011 ein Gesetzentwurf für ein Patientenrechtegesetz beraten werden. Die vom Patientenbeauftragten Wolfgang Zöller (CSU) zusammengetragenen Eckpunkte wollen primär den rechtlichen Status quo in einem Gesetz zusammenfassen, bleiben bei der Stärkung von Patienten gegenüber Leistungserbringern aber unscharf. Nun arbeiten BMG und Justizministerium gemeinsam an einem Entwurf, der Anfang 2012 vorliegen soll. Die Zeitverzögerungen bei der Vorlage eines Patientenrechtegesetzes haben die Länder auf den Plan gerufen. Zehn Landesregierungen haben im November 2011 daher eigene Eckpunkte vorgelegt, die vor allem die Rechte der Patienten stärken wollen, etwa durch das Recht auf eine Zweitmeinung oder einen Härtefallfonds. Zöller hat die Vorschläge als teilweise nicht umsetzbar bezeichnet. Zögert die Koalition, wollen die Länder einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen.
Organspende
  Wir sehen dringenden Handlungsbedarf, die Zahl der freiwillig zur Verfügung gestellten Spenderorgane zu erhöhen. (...) Wir werden überprüfen, wie die organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen im Krankenhaus gestaltet werden können, damit die Organspende und Organtransplantation gestärkt wird. Mit dem Entwurf für ein "Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes" soll eine europäische Richtlinie über Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei Transplantationen umgesetzt werden. Im November 2011 haben die Fraktions-Chefs von Union und SPD den Weg für eine interfraktionelle Einigung für die "Entscheidungslösung" geebnet. Bei der Organspende zeichnet sich jenseits der Fraktionsgrenzen ein Konsens über eine Entscheidungslösung ab, nach der Bürger intensiver als bisher über das Thema Organspende informiert werden - ohne dass Sanktionen drohen. Ob die Länder mitziehen, ist unklar. Den Gesetzentwurf der Regierung zu technischen Fragen haben sie in vielen Punkten abgelehnt.

Quelle: Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP, Tabelle: Ärzte Zeitung
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