Kodierung

Forscher vermuten Manipulation

Neuer Stoff für Streit um den Morbi-RSA: Wissenschaftler finden Hinweise auf systematisches Upcoding von Diagnosen.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

BERLIN. Patienten sind nach dem Start des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) von Krankenkassen kränker gemacht worden, als sie es tatsächlich sind. Das legt eine Studie von Forschern um Professor Amelie Wuppermann von der Ludwigs-Maximilian-Universität München nahe (Plan Responses to Diagnosis-Based Payment: Evidence from Germany‘s Morbidity-Based Risk Adjustment, CESifo Working Papers Nr. 6507). Sie konnten Daten von rund 1,2 Milliarden Diagnosen aus den Jahren 2008 bis 2013 untersuchen, die fast 44 Millionen Personen betrafen. Die Studie dürfte dem Streit über die Reform des Kassenausgleichs neue Nahrung geben. In den Untersuchungszeitraum fällt die Einführung des Morbi-RSA im Jahr 2009. Hierbei wurden 80 schwere und chronische Erkrankungen definiert, bei deren Vorliegen die Kassen erhöhte Ausgleichszahlungen erhalten.

Kassen haben daraufhin vielfach Betreuungsstrukturverträge aufgelegt, deren Ziel es ist, Diagnosen gegen Extrazahlungen zu "überprüfen". Nahegelegt wurden den Ärzten insbesondere, Verdachtsdiagnosen in gesicherte Diagnosen zu transformieren – denn nur für diese erhält eine Kasse entsprechend höhere Zuweisungen.

Das hat offensichtlich geklappt: Den Daten zufolge ist der Anteil der validierten und damit ausgleichsfähigen Diagnosen im Zeitraum von 78 Prozent (2008) auf 83,7 Prozent (2013) gestiegen. Den Trend belegen die Wissenschaftler an den Beispielen akuter Myokardinfarkt und Schlaganfall. In den sechs Jahren sank die Prävalenz der Verdachtsdiagnosen, die der gesicherten Diagnosen nahm zu. "Unser Studiendesign lässt den Schluss zu, dass dies eine Folge der vermehrten Aufzeichnung dieser Diagnosen durch Ärzte ist und dass nicht etwa die Verbreitung dieser Krankheiten gestiegen ist", kommentiert Wuppermann, die in München Ökonometrie lehrt.

Augenfällig ist, dass dieser Effekt ab 2010 sichtbar wird: Ende 2008 ist die Liste mit den 80 finanziell besonders "wertvollen" Erkrankungen im neuen Morbi-RSA bekannt geworden, anschließend schickten Kassen Heerscharen von "Beratern" in die Praxen der Vertragsärzte. Brisant in der Studie ist, dass die Autoren bei den AOKen besonders starke Veränderungen im Kodierverhalten festgestellt haben. Als mögliche Erklärungen für diesen Effekt werden die gewachsenen Verbindungen der Ortskassen zu den regionalen KVen sowie ihre starke Präsens vor Ort genannt. Allerdings seien die Ergebnisse mit Blick auf das Datensample, das zur Verfügung stand, nicht "robust" genug.

Auch Kai Behrens, Sprecher des AOK Bundesverbands, nennt das Studiendesign "limitiert": "Die Autoren sagen selbst, dass die Studie keinen kausalen Zusammenhang zwischen bestimmten Vertragsformen und dem Diagnosevolumen herstellen kann." Dass die dokumentierte Morbidität zunehme, habe auch mit der zuvor lückenhaften Erfassung zu tun, so Behrens. Unterdessen geht das Bundesversicherungsamt verschärft gegen Betreuungsstrukturverträge vor. 54 von ihnen liegen der Behörde aktuell zur Prüfung vor, sagte BVA-Sprecher Tobias Schmidt der "Ärzte Zeitung". Wie viele solcher Verträge Kassen geschlossen haben, die unter Länderaufsicht stehen, sei dem BVA nicht bekannt.

Fast alle dieser Vereinbarungen hätten nicht den rechtlichen Vorgaben entsprochen. Die betroffenen Kassen hat das BVA zur Vertragsanpassung oder zu deren Kündigung aufgefordert. Bisher lägen der Bonner Behörde aber noch keine überarbeiteten Verträge zur Prüfung vor, sagte Schmidt. Bleibe eine Vertragsanpassung aus, werde das BVA "mit formellen Aufsichtsmitteln eine zeitnahe Kündigung der Verträge bei den Krankenkassen einfordern", kündigte der Sprecher an.

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