Gastbeitrag zum Hauptstadtkongress
Klotzen, nicht kleckern – wie mutig ist die neue Bundesregierung?
Die GKV-Ausgaben laufen völlig aus dem Ruder, der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung bleibt dazu aber vage. Vielleicht findet sich ja eine Koalition der Willigen – der Hauptstadtkongress bietet dazu wieder eine gute Gelegenheit.
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Die von Kanzler Friedrich Merz zur Gesundheitsministerin bestellte Nina Warken steht vor der Mammutaufgabe, die GKV-Finanzierung zu reformieren.
© Bernd Weißbrod/dpa/picture alliance
Die Sorgen der Krankenkassen bleiben groß. Zurecht! Nur hier und da setzt der Koalitionsvertrag gesundheitspolitische Ausrufezeichen, vieles bleibt im Ungefähren. Die Zeit drängt, und die Hoffnung schwindet, dass schnelle Reformen zur nachhaltigen und seriösen Finanzierung des Systems führen könnten. Schlimmer noch: Es fehlt eine detaillierte Roadmap. Das Team um Gesundheitsministerin Nina Warken steht vor einer Mammutaufgabe, angekündigte Sofortmaßnahmen sind dringender denn je.
Mit 327 Milliarden Euro lagen die Kassenausgaben 2024 deutlich über den Einnahmen. Eine unglaubliche Summe. 2015 hatten die Ausgaben noch bei etwas mehr als 200 Milliarden Euro gelegen. 2024 mussten einige Kassen ihre Zusatzbeiträge unterjährig anpassen. Weitere Kassen sind in diesem Jahr hinzugekommen.
Viele fragen sich: Wann ist die Grenze des Zumutbaren erreicht? Welche Impulse braucht das System, um aus der Misere herauszukommen? Fragt man dazu Friedrich Merz, lässt der zumindest durchblicken, dass eine Reform von Kranken- und Pflegeversicherung dringlicher werden könnte als eine Rentenreform. Also: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?
Primärarzt, HzV und Co.
Modelle der Patientensteuerung: Eine Synopse
Zurück zu 2024: 327 Milliarden Euro Ausgaben standen 321 Milliarden Euro an Einnahmen gegenüber. In Jahren mit hohen Rücklagen hätte ein Sechs-Milliarden-Euro-Defizit die Kassen kaum vor größere Probleme gestellt. Doch deren Finanzreserven sind weitgehend aufgebraucht. Sie betrugen Ende 2024 nur noch 2,1 Milliarden Euro oder rund 0,08 Monatsausgaben und entsprachen damit nicht einmal mehr der Hälfte der gesetzlich vorgesehenen Mindestreserve von 0,2 Monatsausgaben. Die Politik ist daran nicht ganz unschuldig. Sie hat die Kassen in jüngerer Vergangenheit immer wieder gezwungen, Reserven abzubauen.
Sozialquote bald bei 49 Prozent ...

Wolfgang van den Bergh, Wissenschaftlicher Leiter des Hauptstadtforums Gesundheitspolitik auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit
© Michaela Illian
Ein gigantisches Sondervermögen von 500 Milliarden Euro ist beschlossene Sache. Das Schulden- und Investitionspaket weckt Begehrlichkeiten. Die „Wünsch-Dir-was Liste“ ist lang. Eines steht wohl fest: Die Kassen sollen um die Summe entlastet werden, die sie für den Klinik-Transformationsfonds zu tragen gehabt hätten – immerhin 25 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren.
Das schafft ein wenig Luft, ändert aber nichts an den strukturellen Problemen der Kranken- und Pflegeversicherung. Die gesundheitspolitischen Architekten des Koalitionsvertrags kennen das Thema, bleiben aber dennoch in ihren Ausführungen vage, unverbindlich und wenig lösungsorientiert. Und dort, wo sie mutig sein wollen, bleibt es bei Überschriften, wie etwa bei der Einführung eines verpflichtenden Primärarztsystems mit freier Arztwahl.
Was tun? Es braucht eine Analyse aller Ein- und Ausgaben, wie seit Monaten von den Kassen gefordert. Ebenso gehören die Strukturen auf den Prüfstand, und nicht zuletzt muss die unkontrollierte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen gestoppt werden. Das wäre auch nicht völlig neu, man müsste sich nur die Gutachten der Sachverständigen zur Über-, Unter- und Fehlversorgung in Erinnerung rufen. Unser System ist immer noch zu sehr auf Kuration fixiert und vernachlässigt dabei die Themen Vorsorge, Eigenverantwortung und Selbstbehalte. Wobei immer klar sein sollte, dass in einem Solidarsystem die Starken die Schwachen unterstützen müssen.
Es bleibt eine große Aufgabe des Sozialstaats, Patientinnen und Patienten Zugang zu medizinischen Innovationen zu verschaffen. Das gilt insbesondere für multimorbide und chronisch Kranke. Dies wiederum verlangt von allen ein Umdenken hinsichtlich der Finanzierung des Systems und der Inanspruchnahme von Leistungen.
Wo bleibt das Maßnahmenpaket?
Dazu wäre es zielführend gewesen, kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen im Koalitionsvertrag aufzuschreiben, etwa
zum Ausbau primärärztlicher Versorgungszentren unter Einbeziehung von Praxen und Kliniken;
zu einer verpflichtenden Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten durch gemeinsame Versorgungsverträge;
zu einer abgestimmten fachärztlichen Versorgung in Klinik und Praxis;
zu mehr Hybrid-Vergütungen – unabhängig vom Ort der Leistungserbringung;
zu einer stärkeren Fokussierung auf die Ergebnisqualität;
zur schnellen Finalisierung einer Rettungs- und Notfallreform;
zur Aufnahme des Faches Gesundheit an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen;
zur Förderung der betrieblichen Gesundheitsvorsorge - mit Erst-Anlaufstellen;
zu einer Digitalisierungspflicht und damit zur papierlosen digitalen Kommunikation auf allen Ebenen der Gesundheits- und Pflegeversorgung.
Sicherlich ist die Liste unvollständig, blickt man auf die gesamte Gesundheitswirtschaft und dabei auch auf die Industrie, wenn es darum geht, eine gute Balance zwischen Innovationsförderung und Kostendämpfung etwa bei neuen Therapien zu finden. Aber diese Aufgaben anzugehen wäre zumindest ein Anfang.
Die Expertise ist da, im Sachverständigenrat und ebenso bei Kassen, Ärzten und Pflegenden. Vielleicht sollte man es auch hier mit einer Allianz der Willigen probieren, die bereit sind, kontrovers und ergebnisoffen zu diskutieren. Dazu bietet der Hauptstadtkongress wie seit Jahren auch wieder in diesem Jahr eine exzellente Plattform.
Finanzielle Situation der GKV
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Übrigens: Der Schätzerkreis hat ausgerechnet, dass die GKV-Ausgaben 2025 auf eine Summe von 340 Milliarden Euro zusteuern. Will heißen: Ein bisschen Entlastung bei versicherungsfremden Leistungen und der Übernahme der Beiträge für Bürgergeldempfänger oder der Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung für pflegende Angehörige werden nicht ausreichen, die Ausgabendynamik zu stoppen.
Die kürzlich von führenden Gesundheitsökonomen in der „Ärzte Zeitung“ geäußerten Vorschläge sind alles andere als trivial, wenn sie von Kostendämpfung, Eigenbeteiligungsmodellen, Priorisierungen und Leistungskürzungen sprechen. Übersetzt bedeutet das: eine klare Absage an bedingungslose Forderungen nach mehr Geld ins System. Mal sehen, wie mutig die neue Bundesregierung ist.
Hauptstadtkongress vom 25. bis 27. Juni 2025
25.06., 16:30 -18:00 Uhr: Perspektive 2030 – Parteien im „Pitch“
26.06., 16:00 -17:30 Uhr: Primärarztmodelle und vernetzte Versorgung
27.06.,11:30 -12:30 Uhr: Vom Innofonds in die Regelversorgung
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