Gastbeitrag
Pflegeversicherung am Limit: Was eine Reform leisten müsste
Die Pflegeversicherung braucht eine grundlegende Reform. Dazu gehört auch eine gesellschaftliche Debatte, wie wir am Lebensende versorgt werden wollen. Die Herausforderungen sind riesig und forden den geballten Sachverstand aller Beteiligten.
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Auch die Pflege bräuchte mehr gesetzgeberischen Anschub – und das nach Möglichkeit an mehreren Systembaustellen gleichzeitig..
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Die gesetzliche Pflegeversicherung wurde in diesem Jahr 30 Jahre alt – doch die Herausforderungen könnten kaum größer sein. Die Ausgaben übersteigen die Einnahmen, die Anzahl der Leistungsempfänger steigt von Jahr zu Jahr: aktuell von 5,2 Millionen und je nach Prognose auf bis zu 5,9 Millionen im Jahr 2027 (Statistisches Bundesamt 2025). Wird die Pflegeversicherung nicht grundlegend reformiert und neu ausgerichtet, droht in absehbarer Zukunft der Kollaps und bedroht damit auch den sozialen Frieden.
Die zukünftige Bundesregierung hat zur Pflegeversicherung in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, die strukturellen und langfristigen Herausforderungen mit einer großen Pflegereform anzugehen.
Ziel sei, die nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung zu sichern, die ambulante und häusliche Pflege zu stärken sowie die Inanspruchnahme von Leistungen für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen zu vereinfachen und bürokratiearm zu gestalten.
Vera Lux ist Wissenschaftliche Leiterin des Pflegemanagementkongresses auf dem Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit und Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK)
Die Grundlagen der Reform soll eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Ministerebene unter Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände bis Ende 2025 erarbeiten. Bis die Pflegeversicherung vor 30 Jahren verabschiedet wurde, hat es sechs Jahre gebraucht. Man darf daher durchaus skeptisch sein, inwieweit die neue Bundesregierung die Reformvorschläge in nur wenigen Monaten erarbeitet haben will.
Prognose des GKV-Spitzenverbandes
Krankenkassen-Finanzen: Beitragsspirale dreht sich 2025 weiter
Aufgrund der finanziellen Engpässe der Pflegeversicherung ist der Beitragssatz zu Beginn des Jahres 2025 erneut angehoben worden und liegt bei 4,2 Prozent für Kinderlose sowie für Eltern mit fünf und mehr Kindern bei 2,6 Prozent. Doch verschafft dies nur einen geringen zeitlichen Spielraum.
Denn es bleibt ein Milliardendefizit und die Finanzentwicklung ist besorgniserregend. Ökonomen rechnen damit, dass die Beiträge spätestens im Herbst weiter steigen, da ansonsten vielen Pflegekassen die Zahlungsunfähigkeit drohe und sie finanziell unterstützt werden müssen.
Bereits heute beträgt die Sozialabgabenquote 42 Prozent. Lange Zeit sollte diese Grenze nicht überschritten werden. Die Sozialversicherungsbeiträgekontinuierlich zu erhöhen ist also keine Lösung. Es stellt sich die Frage, wie man entweder die Einnahmen (anderweitig) erhöht – oder aber die Ausgaben begrenzt.
Pflegebürgervollversicherung?
Generell haben sich die Einkommen in den letzten Jahren positiv entwickelt. Die Beitragsbemessungsgrenze könnte daher generell und für alle angehoben werden.
Einige Experten schlagen eine Pflegebürgervollversicherung vor: Sie soll die pflegebedingten Kosten vollständig über die Sozialversicherung abdecken – und dabei als Bürgerversicherung ausgestaltet sein, in die alle Menschen unabhängig von ihrem Versicherungsstatus einbezogen und alle Einkommensarten bis zur Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt werden sollen (Rothgang 2025).
Zuschüsse zum pflegebedingten Eigenanteil
Teuer, teurer, Heimpflege: PKV-Verband sieht milliardenschwere Fehlsteuerung
Auch wenn der Anteil der gesunden Jahre im Alter zunimmt, in höherem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit pflegebedürftig zu werden. Zwar werden auch immer komplexere Therapien möglich, doch nicht immer ist das, was medizinisch und technisch möglich ist, auch sinnvoll.
Zum Beispiel, wenn die gewonnene Lebenszeit nur gering oder die Lebensqualität für die verbleibende Zeit nicht verbessert werden kann. Hier kommen wir an ethische Grenzen und es braucht dringend eine gesellschaftliche Debatte, wie wir am Lebensende (medizinisch) versorgt, kurativ oder palliativ gepflegt werden wollen.
Vorrangiges Ziel jedes Einzelnen muss es sein, möglichst lange gesund zu bleiben, um selbstbestimmt und selbstständig leben zu können. Dafür braucht es politische Rahmenbedingungen mit Gesetzen zur Prävention und zur Gesundheitsförderung sowie strukturelle Maßnahmen, um die Gesundheitskompetenz in der Gesellschaft und von Kindheit an zu verbessern.
Die Gesundheits- und Pflegereform müsste zukünftig entsprechende Maßnahmen im Leistungskatalog berücksichtigen. Pflege kann hier eine tragende Rolle spielen. Es braucht weniger eine arztzentrierte, dafür eine mehr pflegezentrierte Versorgung, die dazu kostengünstiger ist.
Finanzierungen aus Steuermitteln
Darüber hinaus muss die Pflegeversicherung von versicherungsfremden Leistungen bereinigt werden. Hierzu gehören z.B. Rentenbeiträge für pflegende Angehörige, beitragsfreie Mitversicherung oder pandemiebedingte Zusatzkosten, Beiträge für Bürgergeldempfänger*innen.
Diese sollten über Steuermittel und nicht über die soziale Pflegeversicherung finanziert werden. Auch der Aufbau und Ausbau von Sorgegemeinschaften und Unterstützungsstrukturen (Caring Communities) in Selbsthilfe, Nachbarschaft und Ehrenamt sind dringend geboten und sollten über Steuermittel finanziert werden.
Ebenso darf die Finanzierung der Pflegeausbildung und des Pflegestudiums in der ambulanten Pflege und Langzeitpflege nicht länger zu Lasten der Leistungsempfänger gehen. Die Finanzierung muss zukünftig, analog zum Medizinstudium, aus Steuermitteln erfolgen. Damit werden die Pflegeversicherung und auch die Pflegebedürftigen finanziell deutlich entlastet.
Von Lauterbach zu Warken
Diese Reformskizzen findet die neue Gesundheitsministerin in der Schublade
Mit der Reform der Pflegeversicherung sind die Verantwortlichkeiten von Laienpflege, Assistenzkräften und professioneller Pflege für die pflegerische Versorgung klarer als bisher zu regeln.
Die Verbindlichkeit der Vorbehaltsaufgaben nach dem Pflegeberufegesetz (§ 4) für professionell Pflegende muss rechtlich (Berufsrecht/Berufsordnung) klar geregelt werden und sich auch im Leistungsrecht abbilden, ebenso wie die Steuerung des Pflegeprozesses. Professionelle Pflege muss von Laienpflege, Pflegeassistenz und Unterstützungsaufgaben durch die Regelung der Befugnisse und Verantwortung klar abgegrenzt sein.
Pflegeklassifikationssystematik einführen!
Erweiterte Rollen wie Advanced Practice Nursing und CHN‘s können sowohl in der Beratung als auch in der Versorgungssteuerung eine entscheidende Rolle spielen. Damit Pflegebedürftige sowie An- und Zugehörige die Pflege auch in komplexen Situationen möglichst lange selbst übernehmen können, braucht es die Begleitung und Anleitung durch die professionelle Pflege.
Mit der Reform der Pflegeversicherung muss eine Pflegeklassifikationssystematik und -terminologie eingeführt werden, um daraus pflegerische Leistungen systematisch zu begründen. Dies fördert den Ausbau der digitalen und KI-gestützten Anwendungen und Plattformen.
Eine einheitliche Fachsprache unterstützt die Qualitätssicherung und erleichtert die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Darüber hinaus dient sie als Grundlage für die Dokumentation, Vergütung und Forschung.
Die Herausforderungen sind riesig und es braucht den geballten Sachverstand aller Beteiligten sowie die Bereitschaft, parteiübergreifend und über die Legislatur hinaus Reformen anzugehen. Professionelle Pflege als wichtiger Leistungserbringer und Akteur im System muss beteiligt werden! Es ist jetzt keine Zeit mehr zu verlieren.
Hauptstadtkongress vom 25. bis 27. Juni 2025
25.06. – 14:00 -15:30 Uhr: Empowermentfür den Pflegeberuf?
26.06. – 14:00 -15:30 Uhr: Besserer Schutz vor Gewalt
27.06. – 09:00 -10:30 Uhr: Geht der Pflegeversicherung das Geld aus?