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Wenn die Isolation zum Problem wird

Familiencoach Depression bietet niedrigschwellige Hilfe

Viele Menschen leiden während der Corona-Pandemie unter der sozialen Isolation. Der Familiencoach Depression der AOK bietet Unterstützung, erklärt Professor Dr. Elisabeth Schramm im Interview.

Von Taina Ebert-Rall Veröffentlicht:
Im Zusammenhang mit Corona steigt die Gefahr depressiver Erkrankungen.

Im Zusammenhang mit Corona steigt die Gefahr depressiver Erkrankungen.

© Davide Bonaldo / stock.adobe.com

Nimmt das Risiko vermehrter Depressionen infolge der Einschränkungen durch die COVID-19-Pandemie zu?

Prof. Dr. Elisabeth Schramm: Noch wissen wir zu wenig darüber, wie sich die Krise auf die psychische Gesundheit bisher gesunder Menschen auswirkt oder was sie für den Verlauf bestehender psychischer Erkrankungen bedeutet. Studien aus früheren Pandemien wie SARS oder Ebola weisen aber darauf hin, dass sich das Risiko für Angststörungen und Depression durch eine soziale Isolation erhöht.

Stressquellen neben der Isolation sind zum Beispiel Angst vor einer Infektion, vor finanziellen Verlusten und allgemeine Versorgungssorgen. Wir wissen aus Wuhan, dass fast die Hälfte von Anrufern bei einem psychologischen Dienst über Angstzustände, Schlafprobleme, somatoforme Symptome, depressive Symptome und emotionale Zustände, also über Einsamkeit oder Unruhe geklagt haben.

Auch über körperliche Beschwerden wie Herzklopfen, Atemnot oder Engegefühl in der Brust wurde berichtet.

Professor Dr. Elisabeth Schramm

Professor Dr. Elisabeth Schramm ist Sektionsleiterin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Sie hat den Familiencoach Depression mit ihrem Team wissenschaftlich entwickelt.

Gibt es ähnliche Erkenntnisse aus Deutschland?

Anrufer bei der Telefonseelsorge klagen über ähnliche Symptome. Seit Beginn der Corona-Krise haben sich die Anrufe dort in etwa verdoppelt. Übrigens beginnen wir gerade eine Untersuchung mit 216 gut voruntersuchten altersdepressiven Patienten, die auch nach ihren Ängsten wegen Corona und anderen psychosozialen Auswirkungen der Krise befragt werden.

Prof. Elisabeth Schramm ist Sektionsleiterin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Uniklinikums Freiburg.

Prof. Elisabeth Schramm ist Sektionsleiterin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Uniklinikums Freiburg.

© Universitätsklinikum Freiburg

Welche Personengruppen sind von Situationen wie der CoronaKrise besonders betroffen?

Zum Beispiel Menschen, die allein und isoliert sind, und Menschen mit psychischen Vorerkrankungen. Letztere sind anfälliger für Stressoren, können sich schlechter auf Krisen einstellen und haben meist weniger soziale Unterstützung zur Verfügung. Depressions-Patienten nehmen Negatives vergrößert wahr. Besonders schlimm ist der Wegfall von psychosozialen und gesundheitlichen Angeboten.

Wir haben das jetzt in der Krise ja selbst erlebt. Vieles wurde erst mal gestoppt, Reha- und andere gesundheitliche Versorgungsangebote sind weggebrochen, Zugehpersonen sind nicht mehr gekommen, Psychotherapie oder der Aufenthalt in einer Tagesklinik musste abgebrochen werden, Singkreise und ähnliche Angebote wurden wegen des Kontaktverbots eingestellt, tägliche Routinen konnten so nicht mehr eingehalten werden. So etwas trifft vor allem Ältere. Das wissen wir seit Jahren aus verschiedenen Untersuchungen. Retrospektive Studien aus 2003 zeigen eine Zunahme der Suizidraten bei älteren Menschen während der SARS-Epidemie.

Wie wirken sich die Belastungen auf die Angehörigen von Depressionskranken aus?

Wir bieten in unserer Altersdepressionsstudie auch telefonische Beratung an. Hier haben sich viele Angehörige von älteren Menschen ab 75 Jahren gemeldet, die verzweifelt und überfordert sind und ihre Mutter oder ihren Vater für die Studie anmelden möchten. In den Gesprächen geht es momentan meist um die Angst vor dem Virus, um Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Einsamkeit und finanzielle Ängste.

Wie kann der Familiencoach Depression diesen Angehörigen in der aktuellen Situation helfen?

Das Online-Angebot bietet allen Interessierten in Zeiten der Kontaktbeschränkungen niedrigschwellige Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags mit einem depressiv erkrankten Angehörigen. Das kann gerade in der aktuellen Situation eine wichtige Hilfestellung sein. Für Angehörige, die bei der AOK versichert sind, bieten wir im Rahmen des Familiencoachs Depression auch regelmäßig Live-Chats an.

Was können Hausärzte tun, um angemessen auf Sorgen und psychische Belastungen ihrer Patienten zu reagieren?

Sie können ihre Patienten ermutigen, Onlineangebote wie den Familiencoach zu nutzen, auch Videosprechstunden oder Angebote für telefonische Sprechstunden anzunehmen.

Gerade für ältere Menschen ist es nicht ratsam, sich derzeit in ein Wartezimmer zu setzen, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Nach meiner Erfahrung sind die jüngeren Älteren, also bis zum Alter von 70, am Rechner noch fit. Ab 75 bevorzugen die meisten für die Sprechstunde aber das Telefon, weil sie damit vertraut sind.

Sie arbeiten derzeit an einem Projekt zur Weiterentwicklung des Familiencoachs Depression. Worum geht es dabei?

Es geht darum, die Wirksamkeit dieses Selbsthilfeprogramms für Angehörige beziehungsweise Bezugspersonen von depressiven Patienten zu erhöhen und zu überprüfen. Teilnehmer können in einer individualisierten Version per E-Mail Fragen stellen oder sie werden in einer standardisierten Version allgemein motiviert und angeleitet. Ziel ist die Evaluation des Nutzens des Familiencoachs Depression mit E-Mail-Unterstützung im Vergleich zur standardisierten Version und zur Routineversorgung. Aus der Forschung weiß man generell, dass solche Onlinetools mit Begleitung wirksamer sind und seltener abgebrochen werden. Im Rahmen der Studie überprüfen wir auch den Nutzungsgrad und die Akzeptanz. Wir gehen davon aus, dass die individualisierte Begleitung am wirksamsten ist. Es geht auch darum, zu erfahren, ob sich die Angehörigen Wissen über die Erkrankung Depression aneignen, dadurch ihre Angehörigen besser unterstützen können und weniger belastet sind und wie sich das dann auf die depressive Symptomatik des Erkrankten auswirkt.

... und wann startet das Projekt?

Demnächst wird es eine Studien-Homepage geben, die Rekrutierung soll im Herbst losgehen, zum Teil auch über Hausarztpraxen.

Noch eine persönliche Frage: Hat sich Ihre Arbeit während der Kontaktsperren verändert und welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Wir mussten die Präsenzkontakte in unserer Altersdepressionsstudie erst einmal unterbrechen. Aber unser Team ist kreativ und engagiert. Wir probieren viel aus und haben uns auf die neue Situation eingependelt. Und jetzt nehmen wir die Arbeit an der Studie wieder auf. Wir haben uns optimiert und nutzen unterschiedliche Kanäle für unsere Arbeit. Richtig schön finde ich es, den Zusammenhalt im Team zu erleben, und dass jeder auf den anderen bedacht ist. Wir sind oft selbst überrascht, wie viel man in diesen Zeiten hinbekommt.

Familiencoach Depression

Der Familiencoach Depression basiert auf aktuellen Erkenntnissen aus der Depressionsforschung, unter anderem aus der Epidemiologie sowie der Verlaufs- und Suizidforschung. Die auf die Interaktion fokussierten Module basieren unter anderem auf Erkenntnissen aus der SocialSupport- Forschung sowie der Expressed-Emotions-Forschung.

www.familiencoach- depression.de

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