Darum verlieren sich Adipöse im Irrgarten der GKV
Sie sind ein gewichtiges Problem und ihre Zahl nimmt zu: Doch die Behandlung adipöser Patienten erfolgt nicht koordiniert. Ein Hamburger Diabetologe nennt die Gründe.
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Dr. Matthias Riedl, Diabetologe in Hamburg
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HAMBURG. Sie kommen zu spät, sie sind unzureichend informiert und ihre Behandlung gilt als wirtschaftlich uninteressant: Übergewichtige Patienten. Ihre Zahl steigt weiter, koordinierte Betreuung findet aber nur selten statt.
Der Hamburger Diabetologe und Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl spricht in diesem Zusammenhang von einer Fehlallokation der Übergewichtigen im deutschen Gesundheitswesen.
"Die Patienten irren im Gesundheitswesen umher", sagt Riedl. Er sieht Ärzte gefordert, durch Aufklärung, bessere Zusammenarbeit und Allokation die Behandlung zu verbessern.
In seiner Schwerpunktpraxis beobachtet Riedl, dass adipöse Patienten viel Gewicht, Leiden und Folgeerkrankungen bei rechtzeitiger Therapie hätte erspart bleiben können. "Bei uns landen leider viel zu spät schlimme Schicksale. Hier hätte bei früherer Therapie das morbide Übergewicht erspart werden können", so Riedl.
Beratungsbedarf steigt, Hilfsangebote transparenter machen
Der Beratungsbedarf steige von Jahr zu Jahr, die bestehenden Hilfsangebote seien zum Teil weder für Patienten, noch für Ärzte transparent.
In Gesprächen mit den chirurgischen Adipositas-Zentren für bariatrische Operationen erfährt Riedl das Problem auf gleiche Weise: "Die Patienten kommen teilweise mit 300 Kilogramm zur Operation - viel zu spät, um effektiver behandeln zu können."
Riedl nennt folgende Ursachen:
Unkenntnis der Ärzte: Viele Hausärzte und Fachärzte kennen nach seiner Einschätzung die Behandlungskaskade für Übergewichtige nicht und reagieren mit Ratschlägen wie ",Essen Sie weniger oder FdH‘, was ernährungsmedizinisch bei Adipösen wenig wirksam ist."
Frustration: Viele Diabetologen in Hamburg sind laut Riedl der Meinung, dass Therapieversuche bei Übergewichtigen frustran sind. Die bariatrischen Chirurgen beklagen in diesem Zusammenhang eine fehlende Zusammenarbeit bei der Zuweisung der morbid Übergewichtigen.
Die Behandlung von Übergewichtigen lohnt sich für Arztpraxen nicht. Riedls "medicum" ist nach seinen Angaben die einzige Hamburger Schwerpunktpraxis für Ernährungsmedizin, muss aber aus Kostengründen darauf achten, nicht zu viele Übergewichtige anzunehmen.
Unkenntnis der Patienten: Viele Patienten wenden sich in ihrer Unwissenheit zunächst an bariatrische Op-Zentren, wo ein Antrag auf Operation gestellt wird. Dieser wird ohne vorherige multidisziplinäre Therapie vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) abgelehnt, was erneut Frust bei den Patienten hervorruft. Der umgekehrte Weg ist zu wenig bekannt. Viele Übergewichtige, die mit herkömmlichen Maßnahmen gescheitert sind, kennen keine Alternativen.
Oft wissen nur Experten, welche Alternativen in Frage kommen. Die von den Leitlinien geforderte multidisziplinäre Therapie wird den Patienten zu selten bekannt gemacht. Riedl nennt Angebote wie "MOBILIS - bewegt abnehmen" von der Sporthochschule Freiburg oder das "Doc Weight"-Konzept.
Beide erfüllen als Jahrestherapieprogramm den interdisziplinären Ansatz in der Behandlung von Übergewicht ab BMI 30/35 durch ein Behandlungsteam, das aus Sportlehrer, Diätfachkraft, Ernährungsmediziner und Psychotherapeut besteht. In diesem Setting sieht Riedl auch bei schwierigeren Fällen Aussicht auf Erfolg. Alle Maßnahmen sind bei den Krankenkassen akkreditiert und werden anteilig finanziert.
Riedl empfiehlt allen Ärzten, bei schwer Übergewichtigen gründlicher nachzuschauen: Am Anfang sollte ein erfahrener Ernährungsmediziner und eine Oecotrophologin ein individuelles Konzept entwerfen oder ein persönliches Coaching einleiten - dies werde von den Kassen gefördert - sowie medizinische Ursachen für das Übergewicht diagnostizieren und behandeln. So lange dies unterbleibe, verschlechtere sich die Aussicht auf einen Behandlungserfolg.