HINTERGRUND

In Baden-Württemberg sind immer weniger Ärzte bereit, Patienten eine Substitutionstherapie anzubieten

Von Marion Lisson Veröffentlicht:

Marius F. fährt 60 Kilometer am Tag, um seinen Hausarzt aufzusuchen. Marius ist drogensüchtig. Vor sechs Wochen hat der Baden-Württemberger, der in einem kleinen Dorf im Zollernalbkreis lebt, eine Methadonsubstitution begonnen. Von seinen Freunden aus der Szene weiß Marius, dass es immer schwieriger wird, wohnortnah einen Arzt zu finden, der Methadon ausgibt.

Gerade einmal 365 Vertragsärzte besaßen im Jahre 2006 in Baden-Württemberg eine Substitutionsgenehmigung der KV. "Bei diesen Zahlen ist aber zu berücksichtigen, dass nicht jeder dieser Ärzte tatsächlich substituiert" machte jetzt Arbeits- und Sozialministerin Dr. Monika Stolz auf Anfrage der SPD-Landtagsabgeordneten (Drucksache 14/1341) deutlich.

Vielleicht die Hälfte der 365 Kollegen würden tatsächlich diese Arbeit machen, schätzt Dr. Gisela Dahl, Suchtbeauftragte der KV Baden-Württemberg. Es gebe dennoch - zumindest im Bereich der Methadonsubstitution - keine Versorgungslücken, meinen beide Frauen. Dennoch müsse im Bereich der Suchtmedizin dringend ein Umdenken erfolgen und sich etwas tun, macht Allgemeinärztin Dahl deutlich.

Drastischer Rückgang seit dem Jahr 2002

Wie sehr die Entwicklung bei substitutionswilligen Ärzten rückläufig ist, zeigen Vergleichszahlen aus dem Jahr 2002. Hier hatten immerhin noch 600 Praxisärzte eine Genehmigung. Der Rückgang zwischen den Jahren 2002 und 2003 (von 600 auf 365 Ärzte) sei dabei durch die Vorgabe der neuen Fachkunde Suchtmedizin bedingt gewesen, informiert Stolz dazu.

Fakt ist aber auch: Diese Fachkunde überhaupt anzustreben, erscheint vielen niedergelassenen Ärzten aktuell nicht wirklich attraktiv. Die Patienten sind schwierig. Nicht selten haben sie Psychosen, leiden unter Depressionen und führen sich entsprechend unangepasst in den Praxen auf. Der Dokumentationsaufwand in der Substitutionstherapie sei immens, kritisieren Suchtmediziner seit Jahren. Einige empfinden zudem die gesetzlich vorgeschriebenen Stichprobenkontrollen der KV als Gängelei. Die in den Augen vieler Ärzte eher bescheidene Honorierung mit rund fünf Euro für die tägliche Verabreichung des Medikamentes, mache die Arbeit auch nicht attraktiver.

"Kaum ein Vertragsarzt, der sich neu niederlässt, ist dazu bereit, Patienten eine Substitutionstherapie anzubieten", weiß man auch bei der KV. Die Mediziner hielten die komplizierten rechtlichen Rahmenbedingungen für praxisfern und fühlten sich häufig an den Rand der Legalität getrieben.

Allgemeinärztin Dahl, nennt ein konkretes Beispiel aus der Praxis. Nach den Richtlinien für die Abgabe von Methadon dürften Teilnehmer des Programms grundsätzlich außer Methadon keine anderen Drogen mehr konsumieren. Dahl: "Wenn sich die Ärzte an diese Richtlinie - kein Beigebrauch - halten würden, müssten sie 85 Prozent der Patienten auf die Straße werfen und sie ihrem Schicksal überlassen."

8350 Opiatabhängige unterzogen sich bei Vertragsärzten im Jahre 2006 einer Substitutionstherapie, berichtet jetzt die KV Baden-Württemberg. Vier Jahre zuvor waren es noch deutlich weniger - nämlich 4853. Versorgungsprobleme gibt es insbesondere in den Gebieten Schwarzwald-Baar, Zollernalbkreis, Sigmaringen, Biberach und Ravensburg.

Die KV habe grundsätzlich die Möglichkeit, so Stolz, weitere Schwerpunktpraxen einzurichten oder angestellte Ärzte zur Teilnahme an der ambulanten Substitutionsbehandlung zu ermächtigen. Die Ministerin weiter: "Die Bereitschaft angestellter Ärzte zur Mitwirkung an der Substitutionsbehandlung ist vorhanden."

Ob im stationären Bereich die Lösung liegt? KV-Frau Dahl meint, nein. Ob Assistenzärzte - und genau diesen obliege schlussendlich im Klinikalltag die schwierige Versorgung der Drogensüchtigen - den Süchtigen gewachsen seien, dies bezweifelt Dahl.

Bei ihren Forderungen und Überlegungen für eine künftige fachgerechte Versorgung von Süchtigen hat die Hausärztin - gerade angesichts aktueller Forschungsberichte und neuer Trends in der Drogenszene - grundsätzlich zudem nicht allein die Substitutionswilligen selbst im Blick. "Es nutzt nichts, wenn Landräte uns in der KV auffordern, mehr Ärzte sollten substituieren - wir können ja niemanden zwingen", so Dahl grundsätzlich.

Nicht alle Probleme in der Suchtmedizin könnten außerdem durch die Vergabe von Methadon gelöst werden. Nicht alle Drogenabhängigen erfüllten die Voraussetzungen für eine Methadonsubstitution, da sie nicht nur eine Droge, sondern gleich einen ganzen Cocktail davon - nämlich Crack, Kokain, aber auch zum Beispiel psychoaktive Pilze, Samen und Blüten oder Reinigungsmittel wie Gamma-Amino-Buttersäure - konsumieren würden. "In den Hausarztpraxen tauchen auch immer mehr Patienten mit Cannabis-Psychosen auf", informiert Dahl.

Schwerpunktpraxen könnten eine Option sein

Um alle diese Patienten fachgerecht zu versorgen, seien landesweit Zentren - so zum Beispiel in Form von Schwerpunktpraxen notwendig. Hier müsse nicht nur die medizinische Versorgung, sondern auch die psychiatrische Behandlung der Patienten sichergestellt werden. In einigen wenigen Schwerpunktpraxen sei dies bereits möglich.

"Hier können sich die ärztlichen Kollegen im Team auch die Last angesichts von drohenden rechtlichen Problemen und Vorgaben - auf mehrere Schultern verteilen", glaubt Dahl.



FAZIT

Die Fachkunde Suchtmedizin erscheint vielen niedergelassenen Ärzten in Baden-Württemberg nicht attraktiv. Die Patienten sind schwierig. Nicht selten haben sie Psychosen, leiden unter Depressionen und führen sich unangepasst in den Praxen auf. Der Dokumentationsaufwand in der Substitutionstherapie ist immens, kritisieren Suchtmediziner seit Jahren. Die in den Augen vieler Ärzte eher bescheidene Honorierung mit rund fünf Euro für die tägliche Verabreichung des Medikamentes macht die Arbeit auch nicht attraktiver.

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