"Oft ziehen wir Leichen von den Booten"

Wegen des Flüchtlingsdramas vor den Kanarischen Inseln hat Spanien eine Konferenz der Mittelmeer-Anrainerstaaten der EU angekündigt. Ziel sei eine stärkere Kooperation bei der Überwachung der Seegrenzen und der Rückführung illegaler Zuwanderer. Wie die Lage vor Ort ist, hat unser Mitarbeiter Manuel Meyer auf Teneriffa recherchiert.

Manuel MeyerVon Manuel Meyer Veröffentlicht:

TENERIFFA. Urlauber genießen die letzten Sonnenstrahlen am Strand von Los Cristianos, als plötzlich Polizeisirenen die Hafenidylle im Süden Teneriffas zerstören. Die Busse rasen zum Ende der bunt bemalten Kaimauer, wo Rot-Kreuz-Helfer bereits eilig ein Feldlazarett errichten.

Fast im selben Augenblick läuft das Rettungsboot der spanischen Seewache in den Hafen ein. Rasch strömen schaulustige Urlauber herbei und warten ungeduldig hinter der Polizeiabsperrung auf die Neuankömmlinge. Mit Digitalkameras und Handys versuchen sie, das nach dem Teide-Berg auf Teneriffa wohl am häufigsten fotografierte Motiv abzulichten: Elendsflüchtlinge aus Afrika!

Als die 38 Afrikaner aus Gambia das Rettungsboot verlassen, muß die Polizei die Urlauber zurückdrängen. "Das ist schon fast pervers", murmelt Antonio Morin vom Spanischen Roten Kreuz und führt die verängstigten Immigranten ins Feldlazarett. Er hüllt die frierenden Flüchtlinge in Decken, gibt ihnen trockene Kleidung, Wasser und Kekse.

Schon vier Mal so viele Flüchtlinge wie im Jahr 2005

Die 38 Afrikaner sind nicht die ersten und nicht die letzten Flüchtlinge, die der Rot-Kreuz-Koordinator und sein fünfköpfiges Team in diesem Sommer behandeln müssen. Seit Anfang des Jahres gelangten bereits 18 500 afrikanische Flüchtlinge auf die Kanaren, fast vier Mal so viele wie im gesamten Jahr 2005.

Der Grund: Nachdem im vergangenen Herbst Tausende Afrikaner versuchten, die Grenzzäune der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko zu stürmen, erhöhten die Spanier die Absperrungen und verschärften die Kontrollen in der Straße von Gibraltar.

Und ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Nach Schätzungen der kanarischen Regierung und des Roten Kreuzes warten an den Küsten Westafrikas derzeit noch über 100 000 Menschen auf die Gelegenheit, mit einem der Boote auf die Kanaren überzusetzen. Und das Wetter spielt mit: "Von Mitte September bis Ende Oktober ist das Meer traditionell sehr ruhig. Dann werden sie wieder massenweise kommen", weiß Tomás Tejedor von der spanischen Seerettung aus langer Erfahrung.

Unterdessen behandelt Ärztin Irene Maestra Immigranten mit Schürfwunden, Magenschmerzen, Flüssigkeitsverlust und Verbrennungen ersten und zweiten Grades. In den Booten schwimmt Wasser und Motoröl. Die Fässer fallen bei dem starken Seegang regelmäßig um. "Die Mischung aus Motoröl, Salzwasser und Sonne führt zu schlimmsten Infektionen, Verbrennungen und Hautverletzungen", erklärt Morin, der freiwillig aus Fuerteventura gekommen ist, weil die beiden örtlichen Rot-Kreuz-Teams auf Teneriffa, wo fast 80 Prozent aller Flüchtlingsboote landen, seit Wochen im Einsatz und am Ende ihrer Kräfte sind.

"Diese Flüchtlinge hier hatten Glück, daß wir sie bereits nach vier Tagen auf hoher See gefunden haben. Andere sind bis zu zwölf Tage unterwegs. Die letzten Tage müssen sie meistens ohne Wasser und Nahrung verbringen. In diesem Fall ziehen wir nicht selten Leichen aus den Booten", erzählt Antonio Morin.

Rotes Kreuz geht von 3000 ertrunkenen Flüchtlingen aus

Immer wieder ertrinken Menschen beim Versuch, die Kanaren zu erreichen. "Wir schätzen, daß seit Anfang des Jahres bereits 490 Flüchtlinge auf ihrer Fahrt zu den Kanaren umgekommen sind", erklärt Froilán Rodríguez, Immigrationsbeauftragter der kanarischen Regierung. Das spanische Rote Kreuz geht sogar von bis zu 3000 Todesopfern aus. Genaue Zahlen kann niemand geben. "Ich bin nur froh, daß diese es zumindest geschafft haben. Aber zu sehen, mit welchen Erwartungen sie ankommen, und gleichzeitig zu wissen, daß ihre Zukunft ganz anders aussehen wird, deprimiert mich einfach. Aber ich kann die Armut nicht bekämpfen, sondern nur Erste Hilfe leisten", erklärt Morin.

Viele Immigranten kommen mit falschen Vorstellungen

Die meisten Immigranten kommen mit völlig falschen Vorstellungen. "Sie glauben, in Spanien sofort eine Wohnung und einen Job zu bekommen. Doch bestenfalls erwarten sie eine unterbezahlte Arbeit, unwürdige Lebensverhältnisse und ein Leben als Einparkhelfer oder Bettler", weiß Morin. Dabei ist der moralische Druck, so schnell wie möglich Geld in ihr Heimatland zu schicken, enorm. Viele Familien haben monatelang gespart, damit einer von ihnen den Sprung nach Europa schafft. Doch ohne Papiere sucht dieser dann lange vergeblich nach einem annehmbaren Job.

Davon wissen die Neuankömmlinge in Los Cristianos noch nichts. Sie sind nur froh, lebend Europa erreicht zu haben. Und sie wissen genau, daß sie nach 40 Tagen wieder aus dem Auffanglager der Polizei entlassen werden müssen, wenn ihre Herkunft nicht ermittelt werden kann. Da es der spanischen Regierung bisher nur mit wenigen afrikanischen Staaten gelungen ist, Rückführungsabkommen abzuschließen, konnten lediglich acht Prozent aller Immigranten in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.

Die Auffangzentren auf den Kanaren platzen mit 5000 Immigranten aus allen Nähten. Spaniens Vize-Präsidentin De la Vega hat bei EU-Kommissionspräsident Barroso gerade erneut die im Mai versprochenen EU-Hilfen eingefordert. Bisher kamen die zugesagten Helikopter und Patrouillenboote nicht an. "Europa schaut beim Flüchtlingsdrama auf den Kanaren einfach weg", sagt der Immigrationsbeauftragte Rodríguez. "Doch die EU muß handeln, denn diese Menschen wollen gar nicht auf den Kanaren bleiben. Sie wollen in andere europäische Länder oder aufs spanische Festland gelangen."

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