Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung

Stigma ADHS: Wer denkt was über wen?

Mit einer psychischen Erkrankung umzugehen ist nicht einfach, mit den damit einhergehenden Stigmatisierungen durch die Gesellschaft erst recht nicht. Das Beispiel ADHS macht klar: Vorbehalte gegen Erkrankte haben schon Kinder.

Von Pamela Burandt Veröffentlicht:
Kind mit ADHS sitzt an einem Tisch und hat seinen Kopf auf den Tisch gelegt.

Sind das möglicherweise Anzeichen von ADHS? Ähnlich wie Erwachsene legen auch Kinder und Jugendliche stigmatisierendes Verhalten gegenüber ADHS-Betroffenen an den Tag. (Symbolbild mit Fotomodellen)

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Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen bedeutet nicht nur soziale Zurückweisung: Schon seit Jahren setzt sich die Stigmaforschung zunehmend differenzierter mit dem Thema auseinander, evaluiert die Vorurteile einzelner sozialer Gruppen und analysiert das Phänomen in verschiedenen Altersgruppen von Gesunden und Betroffenen. Beispiel: Ein bereits 2016 veröffentlichter Review zur Stigmatisierung bei Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (Journal of Attention Disorders. 2016; Vol. 20(3):199–205). Was hat der Autor Matthew S. Lebowitz, tätig an der Columbia University in New York, in seiner Forschungszeit an der Yale University in New Haven herausgefunden?

Was Erwachsene über Kinder mit ADHS denken

Ein Kind mit ADHS in der Nachbarschaft? Als Klassenkamerad oder sogar Freundin des eigenen Kindes? Für viele Erwachsene sind diese Szenarien negativ besetzt. Nach einer Datenanalyse der US-amerikanischen National Stigma Study-Children aus dem Jahr 2007 würden bis zu einem Fünftel der Erwachsenen den Kontakt zu einem Kind mit ADHS „wahrscheinlich“ bis „ganz sicher“ meiden. Vor allem Jugendliche und männliche ADHS-Betroffene sind sozial abweisendem Verhalten ausgesetzt.

Das könnte auch daran liegen, dass männliche Heranwachsende mit ADHS als „gefährlicher“ wahrgenommen werden, legen die Ergebnisse der Datenanalyse nahe. So meinte knapp ein Drittel der Befragten, dass Kinder mit ADHS „etwas“ oder „sehr sicher“ gewalttätig gegenüber anderen werden könnten. Wurden den Befragten Charakterskizzen vorgelegt, waren von dieser Stigmatisierung eher achtjährige Jungen betroffen als im Vergleich 14-jährige. Interessanterweise schnitten depressive Kinder noch schlechter ab; bei ihnen wurde ein größeres Gewaltpotenzial vermutet.

Stärker stigmatisierten außerdem diejenigen Erwachsenen, die an eine „soziale“ Ursache der ADHS glaubten – etwa schlechte Erziehung oder unangebrachten Medienkonsum. Erwachsene, die eine biologische Kausalität annahmen, gaben den Kindern dagegen weniger Schuld an ihrem Verhalten. Gleichzeitig waren sie aber auch pessimistischer, was die Prognose anging.

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Und was denken gesunde Erwachsene über Gleichaltrige mit ADHS?

Zur Stigmatisierung Erwachsener mit ADHS durch Erwachsene gab es zum Zeitpunkt des Reviews 2016 nur experimentelle Studien mit Studentinnen und Studenten an Hochschulen. Die wenigen Publikationen decken sich jedoch mit den Ergebnissen zur Einstellung Erwachsener gegenüber Kindern mit ADHS.

Was denken Ärztinnen und Ärzte über von ADHS Betroffene?

Wenig erforscht ist auch ein potentiell stigmatisierendes Verhalten von Ärztinnen und Ärzten gegenüber Menschen mit ADHS. Einerseits scheint es Evidenz zu geben, dass sich Ärztinnen und Ärzte bezüglich der Behandlung unsicher sind und zum Teil andere Therapien wählen als die in Leitlinien empfohlenen. Andererseits hat eine Umfrage unter Pädiaterinnen und Pädiatern aus dem Jahr 1995 ergeben, dass ein Großteil von ihnen (66 Prozent) ADHS-Betroffene gerne therapeutisch betreut.

Wie Lehrerinnen / Lehrer über Kinder mit ADHS urteilen

Ein schlechteres Ergebnis lieferte eine im Jahr 2007 veröffentlichte US-amerikanische repräsentative Umfrage bei Lehrkräften: Diese bewerteten Grundschülerinnen und -schüler mit ADHS tendenziell schlechter bezüglich ihrer Schreib- und Rechenkenntnisse, als ihre Noten widerspiegelten.

Wie geht es Eltern von Kindern mit ADHS?

Dieselbe Einschätzung teilten übrigens Eltern, wurden sie zum schulischen Potenzial ihrer Sprösslinge mit ADHS befragt. Weiterhin gaben sie an, selbst von Stigmatisierung betroffen zu sein: Nach den Aussagen von Müttern verhielten sich andere Eltern häufiger verurteilend, auch wurde der eigene Erziehungsstil öfter kritisiert. Stigmatisierendes Verhalten durch andere führte dazu, die Diagnose des eigenen Kindes eher zu verheimlichen und damit auf die nötige soziale Unterstützung zu verzichten. Eine weitere Studie beleuchtete die weiterhin bestehenden Vorbehalte gegenüber der Stimulanzientherapie, wonach 21 Prozent der befragten Eltern etwa „Horrorgeschichten“ gehört oder „zombiehafte Kinder“ im Fernsehen gesehen hätten.

Wie verhalten sich gesunde Kinder  und Jugendliche gegenüber Gleichaltrigen mit ADHS?

Ähnlich wie Erwachsene zeigen auch Kinder und Jugendliche stigmatisierendes Verhalten gegenüber ADHS-Betroffenen. So wiesen 120 Teilnehmende zwischen elf und zwölf Jahren Kindern mit ADHS häufiger negative Eigenschaften, wie „leichtsinnig“, „verrückt“ oder „dumm“, zu. Dabei war es ohne Bedeutung, ob die Diagnose bekannt war oder nicht; das störungsspezifische Verhalten gab den Ausschlag und führte zu sozialer Ablehnung durch die Peergroup.

In einer anderen Studie zeigten 385 irische Kinder und Jugendliche ein explizites (selbst angegebenes) sowie ein signifikant stärkeres implizites (unbewusstes) stigmatisierendes Verhalten.

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Und wie geht es Kindern und Jugendlichen mit ADHS?

Die negativen Vorbehalte bleiben den Betroffenen nicht verborgen. In einer britischen Umfrage glaubten Kinder und Jugendliche mit ADHS, von anderen als unsympathisch, dumm und andersartig angesehen zu werden. Die Mehrheit berichtete zudem über Mobbing und physische Auseinandersetzungen. Ging es um die akademische Leistung, zeigten Erkrankte mit und ohne ADHS-Diagnose jedoch ein ähnlich ausgeprägtes Selbstbewusstsein.

Die eigene Stigmatisierung hat unmittelbaren Einfluss auf die Therapiebereitschaft: Insbesondere mit Eintritt ins Jugendalter brechen viele ihre Behandlung ab. Da Jugendliche sich stark auf die Außenwahrnehmung fokussieren, scheinen Stigmata eine Rolle zu spielen.

Letztlich zeigt die Stigmatisierungsforschung auf, dass bereits Kinder Vorbehalte gegenüber ADHS entwickeln. Weitere Forschung mit Entwicklung möglicher Interventionen gegen diese Stigmata könnte helfen, die soziale Interaktion und den Therapieerfolg bei Menschen mit ADHS zu steigern.

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Kommentare
Dr. Ralph Meyers 05.10.202308:07 Uhr

Es ist wichtig, sich gesamtgesellschaftlich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Wir arbeiten seit mehr als 30 Jahren mit Betroffenen und sind bemüht, hier positive Akzente zu setzen und sowohl Diagnostik als auch Therapie immer weiter zu optimieren. Dabei geht es um Ausreifung bzw. Nachreifung von Hirnfunktionen, die für Reizfilterung und -verarbeitung zuständig sind aber auch wesentlich darum, ADHS nicht als reines Defizitsyndrom zu verstehen, sondern als Teil unserer Neurodiversität.
Manchmal sind es auch Fähigkeiten oder Persönlichkeitseigenschaften, die zwar ins Bild ADHS fallen, die aber für die Betroffenen auch als wesentlicher Teil ihrer Persönlichkeit verstanden werden, wie beispielsweise Spontaneität oder Kreativität.
Hier sind noch viele Möglichkeiten offen, die in der Deutschen Medizinlandschaft ungenutzt bleiben, aber mit wenig Aufwand zu ändern wären. (Siehe dazu meinen Beitrag in Hirschhausen: ADHS - Reportage am 30.10.23 um 20.15 Uhr im ARD).

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