Hintergrund

Was Hirnstimulation mit dem Charakter macht

Parkinson, Demenz und Zwangsstörungen: Die tiefe Hirnstimulation erfreut sich in der Therapie zunehmender Beliebtheit. Doch woran bislang nur wenige gedacht haben: die Stromstöße verändern auch den Charakter der Patienten.

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:
Tiefe Hirnstimulation wirkt sich auch auf die Partnerschaft aus.

Tiefe Hirnstimulation wirkt sich auch auf die Partnerschaft aus.

© Biotronic

Circa 250.000 Menschen in Deutschland leiden an Morbus Parkinson. Medikamente und Physiotherapie sind die klassischen Therapien. Zunehmend etabliert sich auch die tiefe Hirnstimulation (THS).

"Wenn die Wirksamkeit von L-Dopa im Verlauf der Behandlung nachlässt, entwickelt sich häufig eine ,on-off‘-Symptomatik mit Hypo- und Dyskinesien", sagte Professor Lars Timmermann von der Uni Köln bei der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie in Köln.

Therapierefraktäre Patienten, bei denen hypokinetische Phasen mit "freezing" und anderen Gangstörungen im Vordergrund stünden, oder Patienten mit ausgeprägtem Tremor als Hauptsymptom profitierten oft von der THS.

Durch eine THS besserten sich Beweglichkeit und Lebensqualität oft deutlich, auch wenn Medikamente nicht mehr wirkten, so Kongresspräsident Professor Gereon R. Fink, ebenfalls von der Uni Köln.

Circa 80.000 Patienten wurden weltweit Elektroden für eine THS implantiert, die meisten Erfahrungen gibt es bei M. Parkinson. Vor allem Fluktuationen und Dyskinesien bei fortgeschrittener Erkrankung lassen sich durch Stimulation des Nucleus subthalamicus (STN) auch langfristig gut kontrollieren.

Timmermann verwies auf Ergebnisse eines Autorenteams kanadischer Neurologen, die bei einer STN-THS von Parkinsonpatienten auch nach zehn Jahren eine im Vergleich zur Ausgangssymptomatik verbesserte Motorik mit reduziertem Medikamentenbedarf feststellten (Arch Neurol. 68; 2011:1550).

Immer mehr Einsatzfelder

Dabei wird die Methode stetig verfeinert in Bezug auf Zielgebiete und Stimulationsweise. Manchen Patienten zum Beispiel werden mehrere Elektroden implantiert: Die Implantation eines Kontakts im STN hat meist gute Effekte auf Rigor und Hypokinese.

Ein zweiter Kontakt im ventrolateralen Thalamus (N. ventralis oralis anterior, VOA, und N. ventralis intermedius, VIM) mildert bei bestimmten Patienten deutlich den Tremor, sagte Timmermann im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Bei anderen Parkinsonkranken ließen sich die optimalen Effekte auf den Tremor durch Stimulation der Zona inserta erzielen, ein Faserbündel, das STN und Thalamus verbindet.

"Bei Parkinsonpatienten mit schwersten Gangstörungen hat sich in ersten Studien auch die THS im Nucleus pedunculopontinus als wirksam erwiesen" erläuterte Timmermann.

Und so erweitern sich mit zunehmender Erfahrung auch die Indikationen für die THS: innerhalb der Neurologie zur Behandlung von - meist jungen - Patienten mit Dystonien als Folge der Eisenspeichererkrankung NBIA (Neurodegeneration with Brain Iron Accumulation; Brain 133; 2010: 701), Chorea Huntington oder bei Dystonien bedingt durch frühkindlichen Hirnschaden.

Außerhalb der Neurologie wird die THS bei therapierefraktären Patienten mit psychiatrischen Störungen angewandt wie schwerer Depression oder Zwangskrankheiten.

Patienten sind kommunikativer geworden

Die meisten der mit den implantierten Elektroden angesteuerten Hirnareale aber sind multifunktional: Die Nervenfasern sind nicht nur in Verbindung mit benachbarten Strukturen, sondern projizieren auch in entferntere Areale, die Stimmung und Verhalten modulieren.

"Es mehren sich Berichte, dass die tiefe Hirnstimulation Identitätsveränderungen bei Patienten hervorrufen kann", sagte Professor Christiane Woopen vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Köln, Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats.

Die Forschungsstelle Ethik, die Woopen leitet, koordiniert das deutsch-kanadische Verbundprojekt ELSA-DBS (ethical, legal, and social aspects of deep brain stimulation).

Woopen untersucht in Kooperation mit den Neurologen des Kölner Klinikums die Frage der Identitätsänderung durch THS. Für 30 Patienten liegen Ergebnisse über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monate nach Operation vor.

Auch die Angehörigen wurden befragt. Danach gab jeder dritte Patient und jeder zweite Angehörige an, Charaktereigenschaften hätten sich durch die Therapie verändert: Zum Beispiel seien die Patienten selbstsicherer geworden, könnten mehr Freude empfinden, seien humorvoller, kommunikativer oder motivierter geworden.

Negative Auswirkung für die Partnerschaft

Aber auch erhöhte Aggressivität, Ungerechtigkeit, Impulsivität, gesteigertes Risikoverhalten oder Gleichgültigkeit wurden bemerkt. Auf jede zweite Partnerschaft wirkte sich die THS aus: Meist hatte sie sich verschlechtert, ergaben die Befragungen.

Für Woopen und die behandelnden Ärzte bedeutet dies: Patienten sollten vor Behandlung immer gemeinsam mit Angehörigen über mögliche Veränderungen der Identität aufgeklärt werden.

Sowohl die Kranken, als auch die Angehörigen benötigen während der THS eine psychosoziale Begleitung. Die Stimulationsparameter sollten nicht nur motorische Funktionen bessern, sondern auch kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten erhalten oder wiederherstellen.

"Eine THS mit STN-Stimulation ist offenbar bei Parkinsonpatienten häufiger mit Veränderungen der Identität und des Verhaltens assoziiert als zum Beispiel eine Thalamus- oder Pallidumstimulation", sagte Timmermann der "Ärzte Zeitung".

"Vor allem bei Parkinsonpatienten mit erhöhten Risiken erwägen wir darum, die Elektroden eher im Globus pallidus zu implantieren."

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