Neustart nach der Wende

800 Ärzte-Zulassungen in einer Sitzung!

Chirurg Dr. Klaus Grabow bereitete just seinen Geburtstag vor, da fiel die Mauer. Nach Gründung der KV Sachsen-Anhalt 1990 übernahm er den Zulassungsausschuss – und musste eine Mammutaufgabe schaffen.

Von Petra Zieler Veröffentlicht:
Der Chirurg Dr. Klaus Grabow, kurz vor seinem 80. Geburtstag am 11. November.

Der Chirurg Dr. Klaus Grabow, kurz vor seinem 80. Geburtstag am 11. November.

© Petra Zieler

Dessau. Rund 800 Zulassungen für Ärzte in einer einzigen Sitzung zu bewilligen – auch das war möglich in jener „wilden“ Zeit vor 30 Jahren, die in diesen Tagen immer wieder Gesprächsstoff ist.

Hätte sich am Abend des 9. November 1989 nicht eine Röntgenassistentin von Dr. Klaus Grabow mit den Worten verabschiedet: „Wir fahren mal rüber“ – der Chirurg aus Dessau hätte das historische Ereignis glatt verpasst. Der Arzt hatte zu tun.

Neben seiner Arbeit in der Poliklinik und dem wöchentlichen OP-Tag im Krankenhaus wollte er seinen 50. Geburtstag am 11. November vorbereiten. Grabow rechnete mit vielen Gästen. So mal auf Knopfdruck Essen und Getränke ordern, daran war nicht zu denken. „Ich musste mir schon überlegen, was ich woher bekomme. Vieles gab’s ja nur als Bückware.“

So wurden Artikel genannt, die unter dem Ladentisch lagen. Verkäuferinnen bückten sich nur für gute Bekannte oder eine Gegenleistung, um sie zu verkaufen. Dass es bereits einen Tag später alles im Überfluss geben sollte, wenn auch in entsprechender Währung, das wäre auch Klaus Grabow niemals im Traum eingefallen. „Wir hatten jedenfalls beim Geburtstag genügend Gesprächsstoff.“

Was wird mit den Polikliniken?

Rund 80 Gäste waren Gratulanten, darunter auch die Dessauer Handballer, die Klaus Grabow 24 Jahre lang als Mannschaftsarzt betreut hat. Neben der Freude mischten sich bereits an diesem Tag Unsicherheiten in die Diskussionen. „Niemand wusste doch, was passieren würde. Wird die Zeit wieder zurückgedreht? Und wenn nicht, was wird mit den Polikliniken? So was gab es doch im Westen nicht.“

Wie viele Ärzte wollte auch Klaus Grabow nicht einfach abwarten. Mit den Kollegen aus der Poliklinik der Bauhaus-Stadt beriet er deshalb schon wenig später, was unbedingt zu tun sei. „Dabei wurde auch klar, dass es jemanden geben musste, der uns vertreten musste.“ Klaus Grabow wurde gewählt und war quasi der erste Kreisstellensprecher in der Region. „Allerdings ohne jegliche Ahnung.“

Grabow begann sich umzuhören bei den wenigen niedergelassenen Ärzten in der DDR, der KV in Hannover, bei KBV und Bundesärztekammer. „Die Unterstützung war enorm. Doch vieles war auch für die Kollegen aus dem anderen Teil Deutschlands absolutes Neuland.“ „Wir lebten ja wie im Niemandsland und selbst erfahrene Juristen waren oft ratlos. So wussten wir anfangs nicht, was bei Privatisierungen aus den Arzthelferinnen werden sollte. Jede zu übernehmen, wäre nicht möglich gewesen. Es waren einfach zu viele.“

Obwohl auch die staatlichen Behörden der DDR kaum noch funktionierten und Entscheidungen nicht mehr getroffen wurden, ging es Schritt für Schritt voran. „Mit Gründung der Kassenärztlichen Vereinigung im Oktober 1990 kamen wir zwar endlich ins richtige Fahrwasser, dennoch blieben mehr Frage- als Ausrufezeichen.“

Klaus Grabow, der in den neuen Vorstand gewählt worden war, stand vor einem neuen Abenteuer. „Unser Vorsitzender Klaus Penndorf nahm mich zur Seite und sagte: „Du übernimmst den Zulassungsausschuss. Ich wusste überhaupt nicht, was das ist, was ich tun sollte.“

Schnell lernte der Dessauer, dass damals noch jeder Arzt, der sich niederlassen wollte, zugelassen werden musste. Das änderte sich erst mit der Bedarfsplanung ab Anfang 1993. „Bis dahin musste alles bewilligt werden. Und alles war eine nicht abreißende Flut.“

Notfalls Heiligabend tagen

Die Dezember-Sitzung 1990 war der absolute Höhepunkt. Etwa 800 Anträge lagen vor. „Die müssen wir heute schaffen“, sagte ich zu meinen Mitstreitern. Alle protestierten, besonders die Vertreter der Kassen, die alle aus dem Westen kamen und so eine Arbeitsweise nicht kannten. Das sei nicht zu schaffen, sagten sie. „Aber ich wusste, dass meine Kollegen in den Startlöchern standen, loslegen wollten. Gut, habe ich gesagt, dann treffen wir uns eben zusätzlich Heiligabend. Das war ernst gemeint. Ich fühlte mich den Ärzten gegenüber in der Pflicht, zumal Ende 1990 die letzten Polikliniken aufgelöst wurden.“

So wurden denn alle 800 Anträge in einer einzigen Sitzung bewilligt. Ein Sitzungsmarathon. Zu entscheiden war auch über Anträge, die Kreisärzte der DDR abgesegnet hatten. „Das war ungesetzlich. Wir mussten uns noch einmal damit beschäftigen.“ 28 Jahre lang blieb Klaus Grabow alternierender Vorsitzender des Zulassungsausschusses. Auch heute noch ist er ab und an dabei, wenn ein Kollege vertreten werden muss. „Genug zu tun gibt es noch immer.“

Der Ausschuss hat heute immer noch jährlich mehr als rund 1000 Fälle zu entscheiden. Diese verteilen sich auf 390 Angelegenheiten, die Ärzte betreffen, 240 MVZ-, 150 Psychotherapeutenanträge und 220 Anträge von ermächtigen Ärzten und Einrichtungen. „Aber am meisten macht uns die Bürokratie zu schaffen.“

Dr. Klaus Grabow

  • Am 11. November feiert Dr. Klaus Grabow seinen 80. Geburtstag. Sein runder Geburtstag vor 30 Jahren fiel in eine bewegte Zeit, zwei Tage nach der Maueröffnung.
  • Sein Staatsexamen hat Grabow seit 1966 in der Tasche. 1000 Studierende gehörten seinem Studienjahr an. Die DDR brauchte junge Ärzte, weil Mediziner in Scharen das Land verlassen hatten.
  • Grabow arbeitete 1989 als Chirurg in der Poliklinik in Dessau. Im November 1990 übernahm er den Zulassungsausschuss und blieb 28 Jahre lang dessen alternierender Vorsitzender.

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