Porträt

Der Chefarzt, der Ministerpräsident wurde

Ob er für den Landtag in Sachsen-Anhalt kandidieren wollte, wurde Professor Wolfgang Böhmer 1990 gefragt: Er wurde Finanz- und Sozialminister, dann Landesvater. Rückblick auf eine bewegte Zeit.

Von Petra Zieler Veröffentlicht:
Wolfgang Böhmer in seinem Arbeitszimmer in Wittenberg. Der heute 83-Jährige war Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt. Das Foto stammt aus dem Jahr 2002.

Wolfgang Böhmer in seinem Arbeitszimmer in Wittenberg. Der heute 83-Jährige war Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt. Das Foto stammt aus dem Jahr 2002.

© Petra Zieler

Wittenberg. Vom Arzt zum Ministerpräsidenten – mit dem Fall der Mauer begann auch für Professor Dr. Wolfgang Böhmer ein ganz anderes Leben.

Als die Mauer fiel, war Wolfgang Böhmer schon im anderen Teil des Landes. „Als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Ärzte in der Diakonie der DDR sollte ich an diesem Tag einen Vortrag in Hannover halten. Abends saß ich mutterseelenallein im Gästezimmer des Henrietten-Stifts Hannover, schaute ein bisschen fern und wollte bald ins Bett.“

„Dann bricht der Laden zusammen“

Doch dann überschlugen sich die Meldungen. Die wissen nicht, was sie tun, war sein erster Gedanke. „Und wie sich später herausstellte, wussten sie es ja wirklich nicht. Später habe ich mir auch Gedanken um den Dienstplan gemacht.“ Der Gynäkologe, der seit 1973 Chefarzt im evangelischen Paul-Gerhardt-Stift Wittenberg war, erinnerte sich an seine Zeit als Oberarzt an einem Görlitzer Krankenhaus. Immer wieder riefen Kollegen an, um sich abzumelden. „So manches Mal habe ich gedacht, wenn noch mehr abhauen, bricht der Laden zusammen.“

Wolfgang Böhmer, glücklich verheiratet, Vater eines Sohnes, hatte solche Gedanken nie, obwohl er dienstlich gelegentlich im „kapitalistischen Ausland“ war. Wie eben auch an jenem 9. November 1989, als er die halbe Nacht wach blieb und sich im Fernsehen anschaute, wie seine Landsleute in den Westen strömten.

Sein Abenteuer begann aber erst am 10. November. „Bei der Ausreise aus der DDR einen Tag vorher war ich am Grenzübergang noch mehrfach kontrolliert worden. Einen Tag später war kein Polizist mehr zu sehen. Keiner konnte mir den Einreisestempel verpassen. Der war zwingend notwendig, glaubte ich jedenfalls.“ Doch der fehlende Stempel brachte dem Bauernsohn aus der Oberlausitz keinen Ärger mehr. Wahnsinn! Ein Wort, das Böhmer an jenem Tag aus tausenden Mündern hörte.

Persönlicher Bezug zur CDU schon vor Kandidatur

Zu Hause in Wittenberg dauerte es nicht lange, bis der parteilose Chefarzt Besuch von zwei CDU-Männern bekam. „Sie wollten, dass ich für den Landtag kandidiere.“ Was er da machen solle, fragte er und hörte, Landtag sei ähnlich wie Bezirkstag. „Der, das wusste ich, trat ein- bis zweimal im Quartal zusammen. Das glaubte ich zu schaffen und sagte zu – ein bisschen auch, weil ich mich der CDU verpflichtet fühlte.“

Böhmer hatte sich einst an Christdemokraten gewandt, als sein Sohn aus politischen Gründen von der Uni exmatrikuliert worden war. Nach einem Jahr „Bewährung in der sozialistischen Produktion“ durfte der Filius damals weiter studieren. Die CDU hatte geholfen.

Ohne jeden Wahlkampf („so was kannte und wollte ich nicht“) wurde Wolfgang Böhmer in den Landtag Sachsen-Anhalt gewählt. Schnell wurde ihm klar, dass seine Zeit für Mandat und Chefarzt-Tätigkeit nicht reichte. „Ich wollte das Mandat zurückgeben. Doch das stieß auf wenig Gegenliebe. Deshalb einigten wir uns darauf, dass ich ein Jahr bleibe.“ Er blieb viel länger, wurde schließlich Finanz-, später Sozialminister und hat auch während dieser Zeit noch operiert, meistens samstags.

Selbstironie und Selbstbewusstsein

Zu Beginn des neuen Jahrtausends und zwei Wahlperioden CDU-Opposition glaubten nur die wenigsten an einen Wahlsieg der Christdemokraten. „Die Partei brauchte also einen Kandidaten, dem eine verlorene Wahl nicht schadet. Der Böhmer hat sein Krankenhaus, der ist alt, hieß es – so wurde ich Spitzenkandidat.“

Sein mit Selbstironie gepaarte Selbstbewusstsein hat auch später immer wieder verblüfft. Böhmer war und ist keiner, der mit seiner Meinung hinter dem Berg hält. Das bekam auch Angela Merkel schon recht früh zu spüren. „Was soll der Unsinn“, fuhr sie ihn mit Blick auf ein Wahlplakat an: Der MP-Kandidat im Chefarztkittel mit einem Neugeborenen. Darunter der Satz: „Wir werden das Kind schon schaukeln“. Das Plakat blieb und Böhmer wurde Ministerpräsident.

Ein Mann, der nachdenklich sagt: „Wir haben nach mehr Demokratie geschrien, aber wir wussten nicht, was Demokratie bedeutet“, sollte demokratische Prozesse nun maßgeblich mitbestimmen. Wie schwer das oft war – Böhmer greift auf Beispiele aus dem Gesundheitswesen zurück: Die Außenstellen der Polikliniken etwa, die nach der Wende aufgelöst wurden. Böhmer war dagegen.

„MVZ – wir fanden diesen Namen“

Viele Ärzte und die damalige Spitze der KV Sachsen-Anhalt nicht. Oder die Diskussionen um das Wiederaufleben von Poliklinik-ähnlichen Strukturen, für die sich Böhmer im Bundesgesundheitsministerium stark gemacht hatte. „Wir haben nächtelang diskutiert. Ich wurde beschimpft, den Sozialismus zurückholen zu wollen. Erst, als wir für das Projekt den Namen MVZ gefunden hatten, waren die Anfeindungen vom Tisch und wir konnten zur Sache diskutieren.“ Auch Außensprechstunden gibt es heute wieder – in Form von Filialpraxen.

Im eigenen Bundesland setzte Böhmer auf Investoren. „2002 zu meinem Amtsantritt hatten wir 96 Monate lang ohne Unterbrechung die höchste Arbeitslosigkeit. Davon wollte ich weg.“ 2004 wurde Sachsen-Anhalt die rote Laterne los. „Fortschritte waren zu sehen. Aber gereicht hat das nicht. Wie es nie reicht in der Politik.“

Schaut der Arzt und Politiker mit Sorge in die Zukunft? „Nein. Wir werden das schaffen. Wir müssen aber lernen, mit Unterschiedlichkeiten zu leben. Dazu gehört auch, demokratische Strukturen weiter zu entwickeln. Volksbefragungen eingeschlossen.“

Professor Dr. Wolfgang Böhmer

  • Jahrgang 1936, Medizinstudium in Leipzig, Promotion 1959, Habilitation 1983.
  • Von 1990 bis 2002, 2005 bis 2006 und Juli 2007 bis 2011 gehörte er dem Landtag von Sachsen-Anhalt an.
  • Minister in den Jahren 1991 bis 1994, Ministerpräsident von Mai 2002 bis 2011.

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