"Doktor Tod" verkauft seine Argumente wie ein Autohändler

Von Karin Frohnmeyer Veröffentlicht:

Selbstmord. Freitod. Suizid. Selbstbestimmter Tod. Worte für ein Geschehen, das, so Albert Camus, das einzige wirklich ernste philosophische Problem ist. Dieses Problems hat sich der Schweizer Lukas Bärfuss, einer der wichtigsten deutschsprachigen Jungdramatiker, angenommen.

Bärfuss hat dieser Tage den Gerrit-Engelke-Literaturpreis der Stadt Hannover erhalten. Sein Theaterstück "Alices Reise in die Schweiz", 2005 als Auftragsarbeit für das Theater Basel entstanden, hatte jetzt seine deutsche Erstaufführung am Theater Kiel.

Auf harten schwarzen Würfeln hocken die Zuschauer in der Mitte des Schauspiel-Studios - die Nähe zum Nachbarn ist spürbar, intim fast. Entspanntes Zurücklehnen, ein Entrinnen gar, ist nicht möglich. Weder gedanklich noch räumlich. Silbrige Folienwände, die die Worte zu reflektieren scheinen, forcieren das Gefühl der Eingrenzung. Die verschiedenen Spielorte an allen Seiten des Raums, fast hautnah am Zuschauer, wurden von Christian Botzenhard spartanisch und damit umso eindringlicher ausgestattet.

"Nehmen Sie die Tram Nr. 3." Praktisch, distanziert und emotionslos sind die Tips von Gustav Strom, Arzt und Sterbehelfer aus Überzeugung. Alice (eindringlich: Ellen Dorn), eine junge Frau aus Deutschland, die ihr Leben in der Schweiz beenden möchte, fühlt sich gut aufgehoben bei Strom (überzeugend in seiner Unbeirrbarkeit: Franz-Joseph Dieken).

Sie will, daß alles sauber und ordentlich über die Bühne geht. Ohne Blut. Ohne Erbrechen. Ohne gebrochene Knochen. Ohne viel Aufhebens eben. Und ohne daß ihre Mutter noch Scherereien bekommt. Warum sie sterben will, bleibt unklar. Unheilbar krank sei sie, sagt die Mutter. Und an anderer Stelle: "Du bist krank, weil du nichts tust". Ob Alice an einer schweren Depression leidet, läßt Bärfuss offen.

In 23 dichten Bildern beschreibt er Stationen einer Begegnung zwischen Alice und Strom und Szenen aus dem Alltag des Arztes. Strom, für den die Freiheit, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst bestimmen zu können, unabdingbar zur menschlichen Würde gehört, verkauft seine Argumente geschliffen wie ein Autohändler. Bürokratisch fast und schematisch bearbeitet er seine "Fälle". Natürlich weiß er um die Diskussionen über seine Arbeit als "Doktor Tod".

Doch er setzt sich nicht mit ihnen auseinander, sondern weicht aus in Theorien. Nicht Reflexion ist seine Stärke, sondern das unbeirrte Marschieren auf einmal eingeschlagenem Weg. Weder ein Gefängnisaufenthalt noch der Entzug seiner Approbation lassen ihn verharren. Strom, selbstverliebt und getrieben von Allmachtsphantasien, ist sich sicher: Die Menschen hassen nicht das, was er tut. Sie hassen ihn, Gustav Strom. Und damit kann er leben. Gut sogar.

Diese Selbstgerechtigkeit mag es auch sein, die ihn blind werden läßt für die Wandlungen, die Alice durchlebt. Plötzlich möchte sie noch einmal in ein kleines Hotel an der Nordsee. Plötzlich erfreut sie sich an der Natur. Plötzlich erscheint sie in einem offenherzigen Kleid, mit poppig-neuer Handtasche. Strom registriert dies alles, doch er verarbeitet es nicht. Konsequent steuert er weiter auf das Ziel zu - den finalen Akt. Und niemand greift ein. Der Zuschauer erstarrt.

Ist Alices Freitod überhaupt noch selbstbestimmt? Oder wird sie schleichend von einer vagen, kaum greifbaren Fremdbestimmung erfaßt? Warum kann sie nicht mehr zurück? Könnte sich überhaupt irgend jemand wehren gegen den missionarischen Eifer Stroms? Gegen seine kühle und kalte Eindringlichkeit?

John aus Birmingham (Siegfried Jacobs) kann es. Dreimal reist er an. Trinkt Whisky, plaudert, singt und erzählt merkwürdige Geschichten. Und drei Mal fährt er wieder zurück nach England. Obwohl er von Mal zu Mal gebrechlicher wird. John entgleitet seinem Sterbehelfer. Er läßt ihn frustriert in Zürich zurück. Hier - und in den Szenen mit Stroms geschäftstüchtigem Hausvermieter - greift Bärfuss’ Kunst, Tragik mit Komik zu verknüpfen. Eine Komik jedoch, die nicht heiter ist, sondern bitter. Die nicht erleichtert auflachen läßt, sondern als entlarvende Satire daher kommt, die sich in der Gedankenwelt des Zuschauers festsetzt.

Bärfuss ist es gelungen, eines der wichtigsten und persönlichsten Themen unserer Zeit in ein unpathetisches Thesendrama zu kleiden, das Diana Simeoni sensibel und geradlinig inszeniert hat. Es wühlt auf, ohne zu dogmatisieren, es läßt den Zuschauer ob seiner Intensität jedes Zeitgefühl vergessen. Bärfuss, der dem Theater moralische Instanz zubilligt, überläßt es allein dem Zuschauer, Stellung zu beziehen.

Dadurch verunsichert er, provoziert er bewußt Ratlosigkeit: Auch demjenigen, der bereits eine feste Meinung zur Sterbehilfe, wie sie Dignitas anbietet, hatte, präsentierte sich das Theater einmal mehr als intelligentes Diskussionsforum.

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