Buchrezension
Eile mit Weile? Ärzte in der Tempo-Falle
Der Band „Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck“ zeigt nicht nur die zunehmende Beschleunigung auf. Er sucht auch nach Wegen, im Gesundheitswesen Zeiten der Besinnung zu finden.
Veröffentlicht:
© [M] Vandenhoeck & Ruprecht Verlag | HG: lightpoet / stock.adobe.com
Neu-Isenburg. Der Soziologe Hartmut Rosa hat die Verquickung von Technologie, sozialem Wandel und steigendem Lebenstempo als „Akzelerationszirkel“ beschrieben. In der Medizin sind besonders viele problematische Faktoren dieser Beschleunigungsprozesse erkennbar – mit schwerwiegenden Folgen für Ärzte wie für ihre Patienten, schreiben Martin Scherer, Josef Berghold und Helwart Hierdeis.
Der von ihnen herausgegebene Band „Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck“ belässt es nicht dabei, das Problem aufzufächern. Die Autoren fragen auch nach der Möglichkeit, dem Gesundheitswesen „Nischen der Besinnung für die Bedürfnisse der Kranken“ abzutrotzen. Denn die Ausgangslage ist gekennzeichnet durch besonders hohe Spezialisierung, finanzielle Fehlanreize in Richtung Überversorgung oder eine Orientierung an kurzfristiger Rendite.
Frühe Anlage des Problems: Forschung unter Zeitdruck
Die Autoren sehen das Problem in einem frühen Stadium angelegt – bei der Forschung unter Zeitdruck. Medizin sei in hohem Maße anfällig für die Produktion von „Forschungsmüll“ (Hans-Hermann Dubben). Zudem erschwert das hohe Tempo der Wissensproduktion die Überschaubarkeit für den Arzt (Thomas Zimmermann). Die Beispiele für mögliche Konsequenzen – Fälschungen oder das Verschweigen von Ergebnissen – sind zahlreich.
Zugespitzt zeigt sich das Problempanorama in der medizinischen Versorgung selbst: Die Zahl der Arztkontakte pro Jahr in Deutschland ist viel höher als in Nachbarländern, die Konsultationszeit deutlich kürzer. Für Martin Scherer ist hier der tiefere Grund für die Beliebtheit der Alternativmedizin zu finden: „Sie schenkt (oder verkauft) ihrer Klientel Zeit.“
Anknüpfungspunkt: der einzelne Arzt
Doch wenn die Medizin durch die Fortschritte in Wissenschaft und Technologie den Zeitdruck mit erzeugt, dem sie sich ausgesetzt sieht – wo liegt dann ein Ausweg? Weil er der Politik nicht zutraut, selbst entschleunigende Bedingungen zu schaffen, knüpft Till Bastian beim einzelnen Arzt an: Dieser solle durch Selbstregulation – schöpferische Pausen, Neusortierung von Prioritäten, Austausch mit Kollegen – Antworten auf die Beschleunigung finden. Doch wenn die Ökonomisierung einer der stärksten Motoren der Beschleunigungsprozesse ist, kann die Auseinandersetzung dann vom Einzelnen bestanden werden?
Die Herausgeber selbst lassen erkennen, dass die Verantwortung für den Umgang mit diesen Prozessen kaum internalisiert werden kann. Ärzte und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen müssten den Zeitdruck zu einem Politikum im Wortsinne machen. (fst)Martin Scherer, Josef Berghold, Helmwart Hierdeis (Hg.): Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck. Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen. Göttingen 2020, Vandenhoek & Ruprecht, ISBN: 978-3-525-40396-9.