Erster Familien-Stammbaum aus der Bronzezeit
Wissenschaftler der Uni Göttingen haben mit modernsten molekularbiologischen Methoden eine der weltweit ältesten bekannten Familien erforscht. Die Anthropologen haben 40 Skelette aus der frühen Bronzezeit untersucht, die vor etwa 25 Jahren in der Lichtensteinhöhle im Landkreis Osterode am Südrand des Harz’ entdeckt worden waren. Viele Knochen stammen von Kindern und Jugendlichen.
Der Fund der etwa 3000 Jahre alten Menschenknochen war damals eine archäologische Sensation, die Lichtensteinhöhle gilt seitdem als eine der bedeutendsten urgeschichtlichen Fundstätten in Mitteleuropa. Die Ergebnisse der jetzt abgeschlossenen DNA-Analysen sind nicht minder sensationell: Die Göttinger Anthropologen konnten nicht nur die verwandtschaftlichen Beziehungen rekonstruieren, sondern gewannen auch viele Erkenntnisse über die Herkunft und Lebensweise der damaligen Harzbewohner.
Den Göttinger Forschern unter der Leitung von Dr. Susanne Hummel gelang es, aus den 3000 Jahre alten Knochen komplette genetische Fingerabdrücke zu erhalten. Wesentlichen Anteil an den Analysen hatte der Biologe Felix Schilz. Für seine Doktorarbeit hat er die jeweiligen väterlichen und mütterlichen Familienlinien identifiziert.
Bei diesen, wie Schilz sagt, "Vaterschafts- und Mutterschaftstests" stellte sich heraus, daß die in der Höhle gefundenen Skelette zwei Familiengruppen zuzuordnen sind. Zwischen beiden Familien gab es zudem eine verwandtschaftliche Beziehung. Dies ergibt sich daraus, daß sich in der DNA eines Jungen Erbanteile sowohl der einen als auch der anderen Familie finden. Die Eltern selbst waren allerdings an einem anderen Ort bestattet worden, ihre Skelette sind nicht in der Höhle gefunden worden.
Insgesamt ließen sich die verwandtschaftlichen Beziehungen über mindestens drei Generationen nachweisen, berichtet Hummel. "Damit haben wir den weltweit ältesten Stammbaum einer Familie." Sie ist von den Befunden begeistert: "Vor einigen Jahren wäre es noch unmöglich gewesen, solche Jahrtausende alte Verwandtschaftsbeziehungen feststellen zu können." Die Lichtensteinhöhle sei der erste prähistorische Friedhof, bei dem dies gelungen sei.
Doch nicht alle dort Bestatteten waren miteinander verwandt. Sechs von ihnen kamen gewissermaßen von außen, sie hatten keinerlei genetische Ähnlichkeit mit den Angehörigen des Familienclans. Auffallend ist dabei, daß die meisten von ihnen Frauen waren, die im Alter zwischen 17 und 40 Jahren gestorben sind - im gebärfähigen Alter also.
Außerdem zeigte sich, daß die genetischen Muster der Frauen sehr viel größere Varianten aufwiesen als die der Männer. Diese Befunde ließen Rückschlüsse auf das "Residenzverhalten" zu, sagt Hummel. Demnach blieben die Männer damals in der Familie, die Frauen dagegen verließen ihre Familien und heirateten sozusagen in eine andere Familie hinein. Die Frauen aus der Höhle, die vermutlich aus anderen Orten stammten, waren offenbar noch vor der Geburt des ersten Kindes gestorben.
Die Göttinger Forscher fanden anhand der genetischen Analysen außerdem heraus, daß die damaligen Harzbewohner nicht immer in der Region seßhaft waren. Bei mehreren männlichen Linien waren genetische Muster auffällig, die charakteristisch sind für eine Herkunft aus Osteuropa. Bei anderen fanden sich spezielle Merkmale, die für eine Herkunft aus Nordosteuropa typisch sind.
Diese Entdeckung bedeutet, daß der Harz schon in prähistorischer Zeit eine Art Zuwanderungsland gewesen ist. Zumindest die Vorfahren einiger bronzezeitlicher Nutzer der Lichtensteinhöhle stammen ursprünglich aus dem östlichen Europa.