Interview

„Im Tasten erleben wir Begegnung“

Christine Groß setzt sich seit Jahren dafür ein, dass das Handweben weiterhin als Handwerk anerkannt bleibt. Dahinter steckt nicht nur eine Leidenschaft aus der Kindheit. Über die Verbindung von Hand und Hirn sprach die ehemalige Ärztin und Psychologin mit der „Ärzte Zeitung“.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Frau Groß, wir haben uns gerade zur Begrüßung die Hände geschüttelt, jetzt greife ich mit der Hand nach der Kaffeetasse. Was passiert dabei in meinem Kopf?

Christine Groß: Erstmal passiert etwas in ihrer Hand. Ihr Kopf muss kaum mehr aktiv werden. Gott sei Dank! Die Wege in ihrem Gehirn sind längst gebahnt. Unser Tastsinn bildet sich bereits im Mutterleib aus. Sobald wir auf der Welt sind, üben wir das Greifen. Wir erschließen uns damit die Welt. Aus diesen Erfahrungen entwickelt sich unser implizites Wissen, das uns im Alltag gar nicht mehr bewusst ist. Sie wissen daher sofort, wie sie mit einer Kaffeetasse umgehen müssen.

Sie machen sich seit Jahren sehr fürs Handweben stark. Das ist ungewöhnlich für eine Medizinerin.

Groß: Das hatte zunächst biografische Gründe. Als Kind habe ich bereits mehrere textile Techniken gelernt und während meiner Berufstätigkeit war das Arbeiten mit den Stoffen und Garnen ein Ausgleich für mich. Dass sich dahinter auch ein medizinisches Thema verbirgt, wurde mir erst bei der Lektüre von Richard Sennetts Buch „Handwerk“ klar.

Von dem US-Soziologen und Kulturphilosoph stammt das Zitat „Die Trennung von Kopf und Hand schadet letztlich dem Kopf“.

Groß: Ja, in dem Ausmaß, wie wir mit unseren Händen arbeiten, trainieren wir unser Gehirn. Es ist nicht nur die Hand, die tastet, auch das Material berührt die Hand. So findet eine Begegnung statt. Wenn wir beispielsweise kochen, setzen wir uns intensiv mit den Zutaten auseinander – und zwar auf tätige Weise.

Warum ist das Tätigsein mit dem Material so wichtig?

Groß: Ohne Tätigsein können wir nicht leben. Wir müssen fortlaufend mit unserer Umwelt agieren, sie begreifen und die Grenzen feststellen. Die Welterfahrung muss erlebt werden und die Hände spielen dabei eine große Rolle. All das wird zu Beginn des Lebens geprägt. Ein Kind muss mehrmals nach einer Tasse greifen, bis es lernt, wie diese nicht mehr zu Boden fällt. Im Erwachsenenalter ist das Greifen eine Routine, für die – im Vergleich zur Zeit des Lernens - nur noch wenig Hirnaktivität benötigt wird. Dadurch bekomme ich neue Möglichkeiten: Denn während ich routiniert mit den Händen arbeite und zum Beispiel stricke, können andere Hirnareale aktiviert werden, in denen sich die Gedanken sortieren und kreative Lösungen entwickelt werden.

Es gibt heute das Gefühl, das wir in der Gesellschaft viel wissen, aber wenig handeln. Sehen Sie eine zunehmende Blockade zwischen Hand und Hirn?

Groß: Es ist für mich ein Verlust, wenn wir immer weniger unsere Hände einsetzen. Ich verliere dadurch den Zugriff auf die Welt. Es gibt bestimmte Zeitfenster in der kindlichen Entwicklung, in der das Kind bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten einüben sollte. Erwachsene können später noch einiges aufholen, aber das ist sehr viel schwerer.

Die Hände sind demnach die Basis des Lernens?

Groß: Im Zusammenspiel der Hände mit der Umwelt begreifen wir die Welt. Die linke Hand ist in der Regel geübt, etwas zu halten und Kraft zu entwickeln, die rechte Hand leistet die Präzisionsarbeit.

Der Sehsinn allein reicht dazu nicht. Das Auge kann nicht die Materialität erfassen und lässt sich auch täuschen. Eine Hand hingegen ist nicht leicht zu betrügen und sie kann auch nicht betrügen. Musiker zum Beispiel hören den Ton, wenn sie die Hand bewegen und bevor sie ihn spielen.

Wenn wir etwas mit der Hand machen, entwickeln wir unser Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten. Das Lernen mit der Hand reicht von der Feinmotorik, über das Tasten, das Erforschen des Materials, das räumliche Vorstellungsvermögen bis hin zum geduldigen Üben und einem Prozessdenken.

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