Selbstzahlerleistungen
Knie-Arthrose, Kalkschulter, Tennisarm & Co – Medizinischer Dienst Bund kritisiert IGeL-Angebote in der Orthopädie
Der Medizinische Dienst Bund zweifelt an der ordnungsgemäßen Aufklärung in orthopädischen Praxen, wenn es um Selbstzahlerleistungen geht – und bringt eine obligatorische Bedenkzeit (wieder) ins Spiel.
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Hyaluron-Spritzen werden von Patienten mit Kniegelenksarthrose in orthopädischen Praxen gerne als Selbstzahlerleistungen nachgefragt. Der Medizinische Dienst Bund sieht das kritisch.
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Berlin. Klären Haus- und Fachärzte Patientinnen und Patienten regelhaft defizitär über Selbstzahlerleistungen in ihrer Praxis auf? Nach Ansicht des Medizinischen Dienstes (MD) Bund geschieht genau das in Deutschland. „Uns besorgt, dass die Patientinnen und Patienten in den ärztlichen Praxen oftmals nicht über das Schadensrisiko aufgeklärt werden. Die Praxen sollten verpflichtet werden, unabhängig erstellte wissenschaftsbasierte Bewertungen und Informationen regelhaft anzubieten“, forderte Dr. Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des MD Bund, am Dienstag in Berlin vor Journalisten. Zudem griff er die seitens der SPD vor Jahren schon geforderte Einführung einer verpflichtenden Bedenkzeit auf: „IGeL sollten nicht an dem Tag erbracht werden dürfen, an dem sie angeboten werden.“
Laut IGeL-Report 2024 des IGeL-Monitors, einer vom MD Bund betriebenen Plattform, gaben Kassenpatienten im vergangenen Jahr mindestens 2,4 Milliarden Euro für Selbstzahlerleistungen aus. Die höchsten IGeL-Aufwendungen seien dabei in den Fachbereichen Ophthalmologie mit 544 Millionen Euro zu verzeichnen gewesen, gefolgt von der Gynäkologie (543 Millionen Euro) und der Orthopädie/Unfallchirurgie (397 Millionen Euro).
Mehr als zwei Millionen Versicherte fragen orthopädische IGeL nach
In der am Dienstag vorgestellten Auswertung widmet sich der MD Bund speziell den orthopädischen Selbstzahlerleistungen. Aus der Hochrechnung des IGeL-Reports 2024 gehe hervor, dass mindestens 2,1 Millionen Versicherte innerhalb von 12 Monaten orthopädische IGeL in Anspruch genommen haben. „Diese Zahlen zeigen: IGeL aus dem Fachgebiet der Orthopädie sind von sehr großer Relevanz. Daher ist es aus unserer Sicht wichtig, diese Angebote genauer zu betrachten und evidenzbasiert zu bewerten. Unser Ziel dabei ist es, den Versicherten laienverständliche, wissensbasierte Informationen zu möglichem Nutzen und zum Schadensrisiko zu bieten, damit sie eine informierte Entscheidung treffen können“, erläuterte Gronemeyer.
Die Gesamtbilanz der im Auftrag des IGeL-Monitors bewerteten Selbstzahlerleistungen sei seit Jahren ausgesprochen ernüchternd. 60 Bewertungen seien aktuell auf der Plattform abrufbar – 31 davon schneiden mit „tendenziell negativ“ oder „negativ“ ab, bei 26 ist das Ergebnis „unklar“. Mit „positiv“ könne keine IGeL bewertet werden, das Votum „tendenziell positiv“ gab es bisher für drei IGeL.
Negativ-Votum für Hyaluronsäure bei Hüft- und Kniegelenksarthrose
Zu den Bewertungen, die mit „negativ“ abschließen, gehören die aktuellen Bewertungen zu intra-artikulären Hyaluronsäure-Injektionen bei Hüft- und Kniegelenksarthrose. Mit „unklar“ schließen die Bewertungen zur Extrakorporalen Stoßwellentherapie bei Kalkschulter und Tennisarm ab, informierte Dr. Stefan Lange, beim MD Bund Bereichsleiter Evidenzbasierte Medizin.
„Das Besondere an diesen IGeL ist, dass sie im Vergleich zu anderen wie zum Beispiel Ultraschalluntersuchungen zur Früherkennung oder ähnliches sehr teuer sind. Alle vier Maßnahmen, die wir heute vorstellen, eint, dass sie schon seit Jahrzehnten als IGeL angeboten werden. Die Evidenzlage hat sich jedoch über die Zeit entweder nur wenig verändert oder zu einem mehr oder weniger klar negativen Bild entwickelt“, ordnet Lange, der bis vor Kurzem noch stellvertretender Leiter des IQWiG war, die Lage aus Sicht des MD Bund ein.
Das Team des IGeL-Monitors habe die Bewertung zur Hyaluronsäure-Injektion ins Knie aktualisiert und für das Hüftgelenk neu erstellt. Dafür habe man nach hochwertigen systematischen Übersichten gesucht, deren Ergebnisse analysiert und durch eigene Recherchen ergänzt.
Small-Study-Bias bei Hyaluronsäure-IGeL bemängelt
Das Ergebnis war laut Lange „ernüchternd: Seit nunmehr über 50 Jahren wurden sehr viele Studien zur Hyaluronsäure-Injektion ins Knie mit insgesamt über 20.000 Patientinnen und Patienten durchgeführt. Die weit überwiegende Zahl der Studien hat aber nur kleine Fallzahlen, was zu einem besonderen Problem beiträgt: Kleine Studien mit negativen Ergebnissen werden häufig nicht veröffentlicht oder von wissenschaftlichen Fachzeitschriften nicht zur Veröffentlichung angenommen. Das führt zu einer verzerrten Sicht auf den tatsächlichen Nutzen, der dann größer erscheint, als er tatsächlich ist.“
Die systematische Übersicht, die leitend für die aktualisierte Bewertung des IGeL-Monitors gewesen sei, habe eine solche „Small-Study-Bias“ genannte Verzerrung bei den Studien zu Hyaluronsäure-Injektionen ins Knie nachweisen können, so dass nur größere Studien in ihren Hauptanalysen Berücksichtigung gefunden hätten. Es hätten sich minimale Unterschiede bei der Schmerzreduktion und Verbesserung der Beweglichkeit gezeigt, die klinisch ohne Bedeutung seien. „Dafür wurde das Risiko für schwerwiegende unerwünschte Ereignisse deutlich gegenüber einer Schein- oder Nichtbehandlung erhöht. Dazu zählen beispielsweise Herzbeschwerden oder Gelenkinfektionen. Von tausend Personen erleiden unter einer Hyaluronsäure-Injektion 37 ein derartiges Ereignis gegenüber 25 bei einer Scheinbehandlung, also etwa 50 Prozent mehr“, so Lange.
Stoßwelle mit „vergleichsweise geringem Schadenspotenzial“
Die beiden aktualisierten Bewertungen zur Stoßwelle betreffen zwei andere Krankheitsbilder – die Kalkschulter und den Tennisarm. „Anders als bei den Hyaluronsäure-Injektionen ins Kniegelenk gibt es für die Stoßwelle bei Kalkschulter und Tennisarm vergleichsweise wenige Studien, die zumeist nur eine geringe Zahl von Patientinnen und Patienten einschlossen“, merkt Lange hierzu an. Die Studien zeichneten sich darüber hinaus durch eine große Verschiedenartigkeit bei ihrer Ausgestaltung aus. Daraus resultiere ein fragmentiertes und uneinheitliches, teilweise widersprüchliches Bild bei den Ergebnissen, wobei in der Gesamtschau kein wirklicher Vorteil der Stoßwelle zu erkennen sei. Zudem sei auch hier von einer Verzerrung aufgrund der bevorzugten Publikation kleiner Studien mit positiven Ergebnissen auszugehen.
„Das Schadenspotenzial wie beispielsweise Schmerzen während der Behandlung oder die Bildung von Blutergüssen wird aufgrund der Kurzfristigkeit und Reversibilität solcher Ereignisse als vergleichsweise gering eingestuft. Insgesamt führt dies in beiden Indikationen zur Bewertung ‚unklar‘“, erklärt Lange.