Kindersoldaten schalten Tötungshemmung aus

Viele ehemalige Kindersoldaten in Afrika plagen posttraumatische Belastungsstörungen. Seltsamerweise aber umso seltener, je länger sie gekämpft haben. Ihr Gehirn überwindet mit der Zeit alle Kontrollmechanismen. Das Töten wird zur Jagd.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:

BERLIN. Auf dem Video ist ein junger Mann mit abwesendem Blick zu sehen. Offenbar in Trance steht er plötzlich auf, legt sich ein Kabel um die Hüfte, das er für einen Patronengurt hält, und schnappt sich eine Holzleiste als Maschinengewehr. Dann beginnt er, unsichtbare Kumpane anzuschreien. Der junge Afrikaner ist wieder im Kampf, sieht sich als der Kommandant einer Truppe, der er vor Jahren einmal war. Für Minuten nimmt er von außen nichts mehr wahr, keine Bilder, keine Geräusche, keine Gerüche. Die Realität ist einzig das Kino in seinem Kopf. "Bei einem solchen Flashback macht der Thalamus alle Tore zu", beschreibt Professor Thomas Elbert von der Uni Konstanz den Zustand des Mannes, den er auf dem Video beim DGPPN-Kongress in Berlin präsentiert. Die Außenreize des Mannes, der als Kind von ugandischen Rebellen entführt und zum Kämpfer ausgebildet worden ist, gelangen nicht mehr ins Großhirn.

Zustände wie dieser sind ein Charakteristikum vieler Menschen mit Posttraumatischem Belastungssyndrom (PTBS), ihnen gelingt es nicht mehr, die aktuelle Wirklichkeit von den Erinnerungen zu trennen, was soweit gehen kann, dass die Erinnerung für sie zur eigentlichen Wirklichkeit wird, erläuterte Elbert. Hinzu kommen körperliche Probleme: So hatten in Untersuchungen Menschen mit PTBS oft nur halb so hohe Werte für regulatorische T-Zellen, bekannt sind auch chronisch erhöhte Kortisol-Werte. Und diese wirken offenbar vor allem bei Kindern neurotoxisch auf den Hippocampus, dessen Schädigung wiederum eine PTBS begünstigt - eine Erklärung dafür, weshalb das Risiko für eine PTBS umso höher ist, je früher in der Entwicklung die Stressereignisse eintreten. Da der Hippocampus an der Verarbeitung und Speicherung von Stresserlebnissen beteiligt ist, kommt es jedoch praktisch bei jedem Menschen zu einer PTBS, wenn er nur genügend traumatische Ereignisse überlebt hat - von Bürgerkriegsflüchtlingen im Sudan zeigten bei Untersuchungen bis zu 80 Prozent PTBS-Symptome. "Die hatten zum Teil zwei Dutzend schreckliche Erlebnisse pro Person", so Elbert. PTBS sind jedoch nicht nur bei den Opfern von Krieg und Vertreibung zu finden, sondern häufig auch bei Soldaten, bei denen die Gräuel zum Alltag gehören - sie sind meist Opfer und Täter zugleich. In Untersuchungen bei afrikanischen Kindersoldaten hatten jedoch nur etwa 20 Prozent eine PTBS, die Rate war umso niedriger, je länger sie im Kampf waren. Elbert versuchte, das evolutionsbiologisch zu erklären: Der Übergang zur Jagd auf Tiere wurde ermöglicht, dass die Menschen - primär Männer - Schmerzen, Blut und Töten tolerierten. Damit sie Risiken und Qualen in Kauf nahmen, musste ihnen die Jagd Spaß machen. Die Lust aufs Jagen scheint bei Männern programmiert. Gleichzeitig verhindern erlernte Kontrollmechanismen - gesteuert durch frontalen und präfrontalen Kortex, dass das Jagdverhalten nicht auf die eigene Spezies angewandt wird. Kindersoldaten, die im Alter von acht Jahren rekrutiert werden, lernen solche Kontrollmechanismen jedoch nicht. Im Gegenteil: Sie lernen früh, jegliche Tötungshemmung auszuschalten und Grausamkeit als Kriegswaffe zu benutzen. Und dabei gilt: Wo gejagt wird, muss Blut fließen. Dies erkläre, so Elbert, weshalb Verstümmelungen wie Abschneiden von Ohren, Nasen und Gliedmaßen der Opfer ebenfalls mit zum Alltag gehören. Bei einer Befragung von Kindersoldaten gaben drei Viertel an, dass der Unterlegene schreien muss, da er sonst ja nicht unterlegen sei, 70 Prozent stellen sich das Töten vor, wenn sie Leichen sehen, zwei Drittel fühlen sich im Kampf als Jäger.

Bei solchen Kindern findet auch ohne PTBS keine normale Hirnentwicklung statt. Eine Kontrolle oder Emotionsregulation, wie sie normalerweise durch den präfrontalen Kortex erfolgt, ist aufgehoben. Die Kinder werden stattdessen von der Amygdala gesteuert, die ihren Input direkt vom Thalamus erhält. Ein auffälliges Geräusch und sie sind in Alarm- und Kampfbereitschaft - ohne Intervention des Großhirns. Das, sagt Elbert, mag zwar im Krieg von Vorteil sein, im zivilen Leben weniger: "Es ist letztlich die evolutionäre Bereitschaft zur Grausamkeit, die wir lernen müssen zu kontrollieren." Im Krieg scheint das nicht zu klappen.

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