Bye-Bye Britannia

Nach dem Brexit folgte Hunsingers Exit

Nach knapp 24 Jahren Tätigkeit in Großbritannien ist Barbara Hunsinger 2019 nach Deutschland zurückgekehrt. Schuld ist der Brexit, über den sich die 55-jährige Allgemeinärztin bis heute „sehr ärgert“. Aber Wehmut spielt auch mit.

Anke ThomasVon Anke Thomas Veröffentlicht:
Mit kruden Versprechen wie die Kontrolle zurückerhalten zu wollen, warb der jetzige Premierminister Boris Johnson für den Brexit, in dessen Zuge viele Ärzte das Land verließen – wie auch Barbara Hunsinger.

Mit kruden Versprechen wie die Kontrolle zurückerhalten zu wollen, warb der jetzige Premierminister Boris Johnson für den Brexit, in dessen Zuge viele Ärzte das Land verließen – wie auch Barbara Hunsinger.

© Stefan Rousseau / empics / picture alliance

Mainz. Schon 2019 entschied Allgemeinärztin Barbara Hunsinger: Der Brexit ist ein No-Go, es geht zurück nach Deutschland. Zwar hat Hunsinger auch die britische Staatsbürgerschaft und einen Pass in der Tasche, trotzdem empfand die Allgemeinärztin Befremden bei dem Gedanken, dass ihre Wahlheimat aus der EU austreten wird.

„Damals war es unkompliziert nach Großbritannien auszuwandern und dort ärztlich tätig zu werden“, erinnert sie sich. „Mein Leben sähe heute ganz anders aus, wenn es früher die Hürden gegeben hätte, die heute der Brexit mit sich bringt“, erklärt sie gegenüber der „Ärzte Zeitung“.

Barbara Hunsinger sieht im britischen Gesundheitssystem viele Vorteile.

Barbara Hunsinger sieht im britischen Gesundheitssystem viele Vorteile.

© Anke Thomas

Zum einen war es die Liebe, zum anderen seinerzeit auch die Ärzteschwemme in Deutschland, die Großbritannien in ihren Fokus rückte. „1995 war es ungeheuer schwer, einen Platz für das AiP (Arzt im Praktikum) zu finden“, erklärt sie.

In Großbritannien war das ein Leichtes. 18 Monate arbeitete Hunsinger im Südosten des Landes 18 Monate als House Officer. Eigentlich hätte es nur ein Jahr sein müssen, aber für die deutsche Anerkennung war ein halbes Jahr länger nötig.

Angehende Fachärzte rotieren

Im Vergleich zu Deutschland rotieren die angehenden Fachärzte in Großbritannien viel mehr. So durchlief Hunsinger dort jeweils drei Monate Chirurgie, Urologie, Pädiatrie, Psychiatrie, Geriatrie, Endokrinologie/Innere Medizin sowie jeweils sechs Monate in der Gynäkologie und Pädiatrie. Drei Monate arbeitete sie auch in der Notaufnahme, welches ein eigenständiges Fach darstellt.

Zuletzt arbeitete Hunsinger gemeinsam mit zwei weiteren Kollegen selbstständig in einer kleineren Praxis in Brighton für den NHS. Auch angestellte Ärzte waren beschäftigt. Nachdem der älteste Kollege in Rente ging, war es sehr schwierig, eine Ärztin oder einen Arzt zu gewinnen, die das durchaus vorhandene finanzielle Risiko mittragen wollten, erinnert sich Hunsinger. Ähnlich wie in Deutschland präferieren die Kollegen dort die Anstellung. Zudem ist das System der Praxisvertretung viel ausgeprägter.

Ihre Tätigkeit empfand Hunsinger als vielfältig und interessant. Im Primärarztsystem mussten die Briten zuerst den Hausarzt aufsuchen, um dann eventuell einen Facharzt zu konsultieren. Der Vorteil: Alle Informationen, Befunde, Diagnosen von Fachärzten und Kliniken liegen den Hausärzten weitgehend vor.

Auch war das Spektrum vielfältig: Hunsinger führte etwa auch gynäkologische Untersuchungen oder Krebsvorsorgen durch. Kinder gehörten ebenfalls zum Klientel. Weiterhin erledigen Hausärzte viel mehr Aufgaben, für die in Deutschland der Öffentliche Gesundheitsdienst zuständig ist.

Hausärzte von allen über Patienten gut informiert

Als großen Vorteil des britischen Gesundheitssystems sieht Hunsinger die gute Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe an. Die Labore sind in den Kliniken angesiedelt, die alle Werte der Patienten dort zentral abspeichern. So kann der Hausarzt beim Labor abrufen, ob etwa Antibiotikaresistenzen beziehungsweise Ergebnisse hierzu vorliegen.

Oder: „Wenn ich nicht wusste, ob die Auffälligkeit beim EKG gefährlich ist oder nicht, konnte ich jederzeit zum Beispiel den Oberarzt im Krankenhaus anrufen und um einen Check bitten. Eine Rückmeldung kam immer schnell“, erinnert sich Hunsinger. Prinzipiell ist das britische System so ausgestaltet, dass bei der medizinischen Versorgung Ärzte nicht immer im Mittelpunkt des Geschehens stehen.

Die Gesundheitsberufe übernehmen viele Aufgaben, die in Deutschland undenkbar wären. Krankenschwestern endoskopieren oder legen Spiralen, auch Hebammen kümmern sich um Maßnahmen zur Verhütung. Pille, Spirale, Kupferkette – Empfängnisverhütung ist für die Frauen im Übrigen kostenlos. „Man fühlt sich im britischen Gesundheitssystem nicht allein“, meint Hunsinger – das kollegiale Miteinander ist unter allen sehr gut.

Gut empfindet die Allgemeinärztin auch, dass die medizinischen Maßnahmen grundsätzlich evidenzbasiert erfolgen. Das NHS-System ist sehr reglementiert, dafür sind die Vorgaben klar. Auch was ärztliche Verordnungen betrifft: In Brighton etwa wurden hohe Verordnungszahlen bei Benzodiazepinen festgestellt. Der NHS stellt den Ärzten Geld in Aussicht, wenn sie hier bestimmte Grenzen unterschreiten bzw. einhalten.

Hüft-Op gibt‘s sehr wohl für Alte!

Gut eingestellte Diabetiker, Hypertoniker etc. spülen ebenfalls mehr Geld in die Praxiskasse – Pay for Performance wird in Großbritannien gelebt. Das begrüßt Hunsinger. Mit einem Vorurteil möchte sie auch unbedingt aufräumen, dass sie in Deutschland häufiger hört: „Es ist totaler Unsinn, dass dort bei älteren Menschen keine Hüftoperationen mehr durchgeführt werden.“ Das würde immer wieder falsch berichtet, meint sie.

Die Allgemeinärztin arbeitet seit ihrer Rückkehr nach Deutschland als Betriebsmedizinerin und absolviert hierfür derzeit auch Fortbildungen. Darüber hinaus bildet sie sich fort, um vielleicht doch später wieder in Großbritannien arbeiten zu können und ihre Anerkennung dort nicht zu verlieren.

Man merkt Hunsinger an: Brexit hin oder her– ihre britisch-deutsche Seele ist zerrissen und die Wehmut nach Großbritannien ist noch ein ständiger Begleiter.

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