Interview

"Pornosucht bleibt eine lebenslange Verwundung"

Der Psychotherapeut Dr. Kornelius Roth arbeitet seit vielen Jahren mit sex- und pornosüchtigen Patienten. Im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" spricht er über die immer jünger werdenden Patienten und die Therapie.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Roth, wer kommt zu Ihnen, weil er an Pornographie-Sucht leidet?

Dr. Kornelius Roth

'Pornosucht bleibt eine lebenslange Verwundung'

© Privat

Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Bad Herrenalb

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Arbeitsschwerpunkt: Patienten mit Sexsucht/Hypersexualität

Dr. Kornelius Roth: Vor allem "Digital Natives" im jungen Erwachsenenalter. Zum Beispiel Doktoranden, die ständig vor dem Rechner sitzen. Sie haben Druck, weil sie ihre Arbeitsziele, also die Promotion etwa, nicht fertig bekommen. Andere in diesem Alter kommen, nachdem ihre Beziehung zerbrochen ist, weil der Pornokonsum gewissermaßen aufgeflogen ist. Eine dritte Gruppe der Digital Natives sind die einsamen, schüchternen Männer, die noch nie Sex hatten. Bei ihnen ist der Pornographie-Konsum ein Ersatz und verhindert zugleich, dass sie überhaupt Frauen und echte, lebendige Sexualität kennenlernen.

Bei einer anderen Gruppe älterer Männer zwischen 50 und 60 ist die Sexualität in der Partnerschaft abhanden gekommen. Deshalb suchen sie das Verlorene im Internet. Wenn sie auch am Arbeitsplatz Pornos konsumieren, gefährden sie ihren Arbeitsplatz. Haben sie diesen deshalb verloren, stehen sie nun richtig unter Druck. Solche Entlassungen werden natürlich als sehr schmachvoll erlebt. Das treibt die Betroffenen oft noch tiefer in die Sucht.

Nimmt diese Variante der Sucht Ihrer Ansicht nach zu?

Roth: Ich glaube, ja. Früher war ein Nacktfoto aufregend genug, aber keine Überforderung. Meine Patienten waren um die 50 Jahre alt, und sagten mir, "ich dachte immer, meine Frau wäre an meinem Dilemma schuld, jetzt merke ich, dass ich ein eigenes Problem habe". Heute kommen schon die jungen Leute mit Anfang 20. Für sie ist Pornographie überall verfügbar, und sie greifen zu. Es ist wie beim Alkohol: Wenn es weniger davon gibt, gibt es weniger Alkoholiker. Wenn es mehr davon gibt ...

Gibt es im Hinblick auf die Pornosucht so etwas wie Suchtpersönlichkeiten?

Roth: Wir wissen, dass es bestimmt Risikopopulationen gibt. Manche werden von den Bildern geradezu überrollt, sie sind suchtgefährdeter. Andere sehen die Bilder eher beiläufig. Die Empfänglichkeit ist sehr unterschiedlich.

Warum?

Roth: Süchtige haben in ihrer Kindheit öfters sexuelle Übergriffe erlebt, hatten Eltern, die selber an irgendeiner Sucht litten, oder die ganze Herkunftsfamilie war dysfunktional. Auch Menschen mit großer Einsamkeit oder geringem Selbstwertgefühl sind Pornosucht-gefährdet und solche mit einer fragilen Männlichkeit. Auch Religiosität spielt eine Rolle: Wo Sex vor der Ehe verboten ist, wird ein Ersatz gesucht. Dieser Ersatz ist aber ebenfalls streng verboten und wird beim Betroffenen mit Scham und Schuld quittiert.

Sind damit nicht 60 Prozent aller Männer gefährdet?

Roth: Das wohl nicht. Die Gefährdung entsteht, wenn mehrere dieser Kriterien zusammenkommen.

Je mehr Funktionen des Ichs über die Pornosucht kompensiert werden, umso höher die Gefährdung. Also, wenn ein gefährdeter Mann einen Konflikt mit seinem Chef nicht in den Griff bekommt, umso eher sexualisiert er das Problem, und an die fällige Auseinandersetzung mit dem Konflikt beziehungsweise dem Chef tritt dann die Pornographie. Je mehr solche Funktionen übernommen werden, um so gefährdeter wird der Betroffene.

Wie sieht die Therapie aus?

Roth: Zunächst geht es um Pornographie-Abstinenz, nicht um Sex- oder Onanie-Abstinenz. Aber der Suchtstoff muss weg. Dann kann der Therapeut helfen, etwa einem Studenten einen Lernplan aufzustellen, um wieder strukturierter zu werden. Die Sucht hatte ja seinen Alltag aufgelöst. Dann kann er besser lernen, schafft eine Prüfung, wodurch das Selbstwertgefühl steigt und die Notwendigkeit des Pornokonsums sinkt. Anfangs war der Belohnungswert des Suchtmittels so hoch, dass alle anderen Lebensbereiche vernachlässigt wurden. In der Abstinenz kommen die alten Talente oder Hobbys wieder hoch und entwickeln ihren eigenen Belohnungswert.

Ist Pornosucht also heilbar?

Roth: Ja. Aber: Pornosucht bleibt eine lebenslange Verwundung. Es gibt auch kein Davonkommen ohne Rückfälle. Aber diese Rückfälle sind nicht so gravierend wie etwa bei Alkoholikern. Der Pornosüchtige muss die Rückfälle als Lernfeld begreifen und zum Beispiel gesunde Aktivitäten finden wie etwa im Chor singen, Sport treiben oder dergleichen.

Wie viele der Betroffenen in Ihrer Praxis kommen von der Sucht los?

Roth: Etwa zwei Drittel der Betroffenen machen große Entwicklungsfortschritte durch die Psychotherapie und den offenen Umgang mit ihrem Problem.

Lesen Sie dazu auch: Pornosucht: Wenn der Sex-K(l)ick zum Zwang wird Veränderungen im Belohnungssystem: Was Pornos im Gehirn anrichten

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