Buchtipp

Reflektionen eines Neurochirurgen

In seinem neuen Buch "Um Leben und Tod" blickt der britische Neurochirurg Dr. Henry Marsh zurück auf seine Karriere im Op, Erfolg, Scham und Scheitern.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Henry Marsh im Op. Von seinen Erlebnissen als Neurochirurg erzählt er in seinem neuen Buch.

Henry Marsh im Op. Von seinen Erlebnissen als Neurochirurg erzählt er in seinem neuen Buch.

© Henry Marsh

Als Arzt im Praktikum sei ihm der unbedarfte Altruismus abhanden gekommen, über den er als Medizinstudent noch verfügt habe, schreibt der britische Neurochirurg Dr. Henry Marsh in seinen jetzt auf Deutsch erschienenen Erinnerungen "Um Leben und Tod".

Während des Studiums sei es noch leicht gewesen, Mitleid für die Patienten zu empfinden, da er nicht dafür verantwortlich war, was mit ihnen geschah.

"Doch mit zunehmender Verantwortung geht auch die Angst zu versagen einher, und so werden Patienten zur Quelle der Furcht und Belastung sowie, bei Erfolgen, von gelegentlichem Stolz."

Selten hat ein Arzt in aller Öffentlichkeit so offen seine Gefühle benannt wie Henry Marsh: seinen Stolz, seine Hybris, sein Hoffen, seine Angst und seine Trauer über sein Scheitern.

Selten hat ein Arzt zudem so klar formuliert, dass die vermeintliche medizinische Kunst in Wahrheit ein Handwerk ist, das sich zwar perfektionieren lässt, dessen Gelingen jedoch auch von der Tagesform abhängt, mitunter auch von Zufall und Glück. Der Arzt, so Marshs Fazit, ist nicht Gott, sondern Mensch - mithin fehlbar.

Liebe auf den ersten Blick

Dr. Henry Marsh, 1950 in Oxford geboren, gilt als einer der renommiertesten Hirnchirurgen Großbritanniens. In seiner Geburtsstadt studierte er zunächst Wirtschaft, Politik und Philosophie, bevor er ein Medizin-Studium am Royal Free Hospital in London absolvierte.

Als Assistenzarzt erlebt er zum ersten Mal einen hirnchirurgischen Eingriff und sagt rückblickend: "Es war Liebe auf den ersten Blick." Seinen Ruhm als Neurochirurg erwirbt er sich am St. George's University Hospital in London, wo er sich auf die Entfernung von Hirntumoren spezialisiert und an dem er bis zu seinem Ruhestand im Mai dieses Jahres gearbeitet hat.

Bekannt wurde Marsh durch zwei Dokumentarfilme: "Your Life in Their Hands" von 2003 und "The English Surgeon" von 2007, ein mit vielen Preisen (etwa dem Emmy Award) ausgezeichneter Film, der vom ehrenamtlichen Engagement des Arztes in der Ukraine erzählt, wo er mittellose Patienten operiert.

Vor fünf Jahren wurde Henry Marsh zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. "Um Leben und Tod" ist sein erstes populärwissenschaftliches Werk.

"Do No Harm", so der englische Originaltitel, ist in 25 Kapitel gegliedert, jedes überschrieben mit einer jener Diagnosen, die Marsh in seinem neurochirurgischen Alltag herausfordern - Aneurysma, Glioblastom, Meningeom oder Leukotomie - und die Eingriffe erfordern, die der Autor mit dem Entschärfen einer Bombe vergleicht.

Marsh nimmt seine Leser mit in den OP, zeigt ihnen, wie er den Patienten fixiert, dessen Schädel öffnet, die Blutgefäße verödet, ein Loch in die Oberfläche seines Gehirns schneidet und den Sauger hindurch führt.

"Die Vorstellung, dass mein Sauger sich in diesem Moment durch das Denken selbst, durch Gefühl und Vernunft, bewegt, die Vorstellung, dass Erinnerungen, Träume und Gedanken aus Wackelpudding sein sollen, ist schlicht zu merkwürdig, um nachvollziehbar zu sein", schreibt Marsh im ersten Kapitel"Pineozytom" über die Operation an einem Tumor der Zirbeldrüse.

Erfolg und Scheitern nah beieinander

Auch nach 30 Berufsjahren ist Marsh fasziniert von der Hirnchirurgie und preist die technischen Errungenschaften wie beispielsweise die Neuronavigation, die ihm millimetergenaues Arbeiten ermöglicht.

Dabei ist ihm jedoch in jedem Moment bewusst, dass auch der größte medizinische Fortschritt nichts gegen den Faktor Zufall ausrichtet: "Man kann Glück oder Pech haben, und mit zunehmender Erfahrung scheint mir das Glück immer wichtiger zu werden."

Ähnlich wie Glück und Pech liegen auch Erfolg und Scheitern nah beieinander. Marsh beschreibt den tief empfundenen Triumph, wenn er einen schwer kranken Menschen vor dem Tod oder einem würdelosen Leben bewahrt, seinen Stolz beim Gelingen einer komplizierten Operation und seine Hybris, die ihn damit hadern lässt, dass er sich trotz seiner Genialität wie alle anderen in die Schlange vor der Supermarkt-Kasse einreihen muss.

Auch sein Scheitern verschweigt er nicht: wenn eine Patientin nach einer scheinbar komplikationslos verlaufenen Operation gelähmt wieder aufwacht, möglicherweise weil er selbst zu sorglos oder selbstsicher gewesen ist. Die Scham, die er ihr und ihren Angehörigen gegenüber empfindet, lässt ihn wünschen, dass er ihnen nie wieder begegnet.

"Um Leben und Tod" ist ein bewegendes Buch, das die Leser nicht nur an den Gedanken eines altersweisen Mediziners teilhaben lässt, sondern ihnen darüber hinaus einen höchst spannenden Einblick in die Welt der Neurochirurgie erlaubt.

Nicht zuletzt berührt das Werk auch grundsätzliche Fragen der medizinischen Ethik, wenn Henry Marsh beispielsweise konstatiert: "Vor allem muss ich wissen, wann ich aufhören muss. Oft ist es ohnehin besser, der Krankheit ihren natürlichen Lauf zu lassen und überhaupt nicht zu operieren."

Henry Marsh: Um Leben und Tod. Ein Hirnchirurg erzählt vom Heilen, Hoffen und Scheitern. Deutsche Verlags-Anstalt. München 2015. 352 Seiten. 19,99 Euro. ISBN: 978-3-421-04678-9

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