Marburg

Software hilft Blinden im Arbeitsalltag

Eine Marburger Firma hat ein weltweit einzigartiges Geschäftsmodell: Sie entwickelt Software, mit der Blinde genauso schnell und effizient arbeiten können wie Sehende.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:
Mit einer speziellen Software aus Marburg können Blinde ihren Arbeitsalltag besser bewältigen.

Mit einer speziellen Software aus Marburg können Blinde ihren Arbeitsalltag besser bewältigen.

© momius / fotolia.com

MARBURG. Hansjörg Lienert (58) ist fast blind. Und er ist ein Tüftler. Am liebsten hätte er Physik studiert, wenn es damals schon die passenden Hilfsmittel gegeben hätte.

Heute ist er doch irgendwie bei seinen Themen gelandet: Die Marburger Firma "Dräger & Lienert" entwickelt Softwaresysteme, mit denen Blinde ebenso schnell und effizient arbeiten können wie Sehende.

Auf der Erfindermesse in Nürnberg holten die Produkte schon dreimal Medaillen. Selbst in Kanada, Australien und den USA werden die Systeme genutzt.

Weltweit gibt es nämlich keine weitere Firma, die sich auf dieses Gebiet spezialisiert hat, berichtet Lienert.

Es gebe zwar Experten für barrierefreie Seiten, Hersteller von Braillezeilen, Vergrößerungssystemen und Screenreadern, eine Software zur Verbesserung der Arbeitseffizienz von Blinden fehle jedoch.

Was bedeutet "Barrierefreiheit"?

"Barrierefreiheit heißt noch lange nicht, dass man als Blinder auch gut damit arbeiten kann", erläutert der Firmenchef. Er wolle jedoch erreichen, dass seine Kunden im Vergleich zu ihren sehenden Kollegen wettbewerbsfähig sind.

Ein Beispiel: Wer sieht, findet die OK-Buttons auf Webseiten auf einen Blick. Ein Blinder muss sich indes mit seiner Sprachausgabe Zeile für Zeile durchkämpfen. Das dauert viel zu lang.

Mit Lienerts Systemen reicht es, die Tastenkombination "Alt" und "O" zu drücken. "Damit erreichen wir Geschwindigkeiten, mit denen wir Sehende zum Teil überholen", sagt der Firmenchef.

Auf die Unternehmensidee kam der IT-Experte, als er nach Lösungen für eigene PC-Probleme suchte. 1989 startete er die herstellerunabhängig arbeitende Firma gemeinsam mit seiner Ehefrau Kerstin Dräger-Lienert.

Inzwischen sind die Informationsmengen und die Anforderungen an Blinde kräftig gestiegen. Das Unternehmen hat mittlerweile zehn feste Mitarbeiter und ebenso viele Freelancer.

Vor allem in den vergangenen zwei Jahren beobachtet Lienert einen "extremen Anstieg der Nachfrage."

Fast jede Woche fährt einer der Mitarbeiter nach Hamburg, wo IBM, Lufthansa, die TU Hamburg-Harburg und die Nordelbische Kirche zu den Kunden zählen.

Der kanadische Blindenverband sowie blinde Juristen in den USA und Australien gehören ebenfalls zu den Nutzern.

Software für Vereine

Kernprodukt des Unternehmens ist das Softwaresystem "Easy Task", das inzwischen mehr als 1000-mal verkauft wurde.

Es vereinfacht Arbeitsabläufe wie Login-Prozeduren, die Google-Suche sowie das Archivieren und das Kopieren von Texten. Zudem kann damit Software erschlossen werden, die nicht barrierefrei ist.

Speziell für Vereine und Verbände wurde "DL Verein" entwickelt. Die Idee: Die Administration - Mitgliederverwaltung, Fundraising, Abrechnung, Dokumentenmanagement - wird selbst in Blindenverbänden normalerweise von Sehenden übernommen.

Mit der Software können sich Sehbehinderte selbst darum kümmern. Häufig verwendet werden der "Kontaktmanager" und das elektronische Telefonbuch, mit dem Blinde und Sehende im Team arbeiten können - zum Beispiel in einem Callcenter oder einer Telefonzentrale.

 Im Einsatz ist es in Regierungspräsidien, Stadtverwaltungen, Landratsämtern, Banken, Universitäten, Gerichten, Industriebetrieben und sogar im Bundeskanzleramt.

Ein Patent hat das Unternehmen auf "Tag it", ein Ordnungssystem, bei dem Gegenstände mit einem Chip, einem Barcode oder einem QR-Code versehen werden.

Damit können Sehbehinderte Materialausgaben und Lagerverwaltungen organisieren oder in Blindenbüchereien Bücher selbst holen und wieder einstellen.

Beteiligt ist das Unternehmen auch an einem EU-Projekt der TU Dresden, bei dem es darum geht, dass Blinde die Struktur eines Raumes erkennen können.

Am meisten freut sich Lienert über viele begeisterten Kunden - blinde Richter, Verwaltungsbeamte, Psychotherapeuten, Selbstständige oder Lehrer. Lienert: "Möglichst viele blinde Menschen erfolgreich zu integrieren, das ist unser Ziel."

Jetzt abonnieren
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Kriminalität

Lebenslange Haft in Folterprozess gegen syrischen Arzt

Nachruf

Eckart Fiedler – ein Leben für die Selbstverwaltung

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

BAM-Kongress 2025

Schwindel in der Hausarztpraxis: Fünf Fragen zur Ursachenfindung

Vorbeugen ist besser als heilen

Wie die Infektionsprophylaxe bei Krebspatienten gelingt

Lesetipps
Eine Frau liegt auf dem Sofa und hält sich den Bauch.

© dragana991 / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

Schmerzerkrankung

Endometriose-Leitlinie aktualisiert: Multimodale Therapie rückt in den Fokus

Ein Mann fasst sich an den Kopf und hat die Stirn in Falten gelegt.

© Pongsatorn / stock.adobe.com

Indikation für CGRP-Antikörper?

Clusterkopfschmerz: Erenumab scheitert in Prophylaxe-Studie

Zoster-Impfung keine Hilfe bei Lippenherpes

© Porträt: privat | Spritze: Fied

Sie fragen – Experten antworten

Zoster-Impfung keine Hilfe bei Lippenherpes