Halt finden

„Survivors Home“: Anlaufpunkt für Patienten abseits der medizinischen Krebstherapie

Eine Diagnose – und für Erkrankte und Angehörige ist danach oft nichts mehr, wie es war: Krebs tut auch in der Seele weh. Im Herzen Berlins finden Betroffene jetzt einen Ort der Selbstfürsorge.

Von Josefine Kaukemüller Veröffentlicht:
Textbaustein: Text/LWminus1Stephan Pregizer, einer der Gründer der Initiative „CancerSurvivor - Menschen mit Krebs“ und Stiftungsträger der „Survivors Home Foundation“.

Stephan Pregizer, einer der Gründer der Initiative „CancerSurvivor - Menschen mit Krebs“ und Stiftungsträger der „Survivors Home Foundation“.

© Jörg Carstensen / dpa / picture alliance

Berlin. Für Ines Simon gerät nach einem Arztgespräch vor fünf Jahren schlagartig ihr Alltag aus den Fugen. „Innerhalb von 15 Minuten war meine ganze Welt zusammengebrochen, alles eingestürzt“, erinnert sich die 55-Jährige.

Die Schockdiagnose Brustkrebs traf sie unvermittelt. „Das ist der Moment, da fragt man sich: „Warum ich?“ Man fühlt sich alleine, man denkt, es trifft nur einen selbst, alle anderen sind gesund.“

Doch wie ihr geht es vielen: Laut Bundesforschungsministerium leben hierzulande über vier Millionen Krebserkrankte. Jährlich gibt es eine halbe Million Neuerkrankungen.

Die Ausnahmesituation und die Therapie fordern Betroffenen nicht nur physisch, sondern auch seelisch einiges ab. Einen Ort der Achtsamkeit finden die Wolfsburgerin und ihre Angehörigen künftig im „Survivors Home“ in Berlin. Die neue Einrichtung soll mit einem breiten Programm, analog und digital, ein Anlaufpunkt abseits der medizinischen Krebs-Therapie sein – nicht nur für Menschen aus der Hauptstadt.

Ort der Achtsamkeit

Hell und offen sind die Räume in Wilmersdorf, die große Couch lädt zum Dialog, die moderne Küche zum Experimentieren ein. Im Innenhof blüht üppig der Rhododendron. Das Ambiente ist alles andere als klinisch-steril.

„Wir wollen den Menschen ein gutes Gefühl geben und energiespendende Stunden bereiten, bei allem Verlorensein eine Wohlfühlatmosphäre schaffen“, erklärt der geschäftsführende Vorstand Stephan Pregizer. „Das geht in keinem Arztzimmer.“

Als Ines Simon 2017 erfuhr, dass sie Krebs hat, folgten für die Mutter von zwei erwachsenen Kindern, die im Tagungs- und Kongressservice der Stadt Wolfsburg arbeitet, schnell Operation und Strahlentherapie. Eine Chemotherapie brauchte sie nicht.

Bis heute ist sie in Behandlung. Sie könne inzwischen gut mit der Krankheit umgehen, sagt sie, Familie und Freunde hätten sie aufgefangen. Eine gute medizinische, therapeutische und diagnostische Versorgung sei das Eine. „Aber es ist auch so wichtig, in den Austausch mit anderen Betroffenen zu kommen. Das ist das Einzige, was einem zumindest in psychologischer Hinsicht helfen kann, so eine Krise zu meistern.“

Wir wollen den Menschen ein gutes Gefühl geben und energiespendende Stunden bereiten, bei allem Verlorensein eine Wohlfühlatmosphäre schaffen. Das geht in keinem Arztzimmer.

Stephan Pregizer, Geschäftsführender Vorstand der gemeinnützigen „Survivors Home Foundation“

Ziel der gemeinnützigen „Survivors Home Foundation“ sei es, den Austausch zum Leben mit Krebs zwischen Genesenen und Neudiagnostizierten zu fördern, so Pregizer. In Zusammenarbeit mit der Initiative „Cancer Survivor – Menschen mit Krebs“, deren Initiator er ist, Organisationen wie der Deutschen Krebsstiftung und Netzwerkpartnern gehe es in Wilmersdorf vor allem um eines: „Hier soll das Leben und nicht die Krankheit im Zentrum stehen.“

Gelingen soll das durch verschiedenste Aktivitäten, ob kreativ, sportlich oder informativ, krankheitsbezogen oder nicht. So stehen Ernährungskurse, Bewegungsangebote im nahe gelegenen Volkspark, Mal- oder Schmink-Workshops, Talkshows und mehr auf dem Programm. Hinzu kommen Beratungsangebote und psychoonkologischer Support. Das Konzept ist analog und digital gedacht, die Streaming-Technik steht bereit.

Ausdrücklich sind Menschen aus ganz Deutschland eingeladen. Für Interessierte ist das Angebot kostenlos, weil das gesamte Gebäude in die Stiftung eingebracht wurde und sie aus den Mieteinnahmen ihr Kapital zieht.

Das Programm schließe gezielt auch die Angehörigen der Erkrankten ein, die im klinischen Umfeld sonst kaum Angebote fänden, obwohl sie extrem viel leisteten, sagt der Vorstand. So soll etwa ein „Wut-Kraft“-Seminar im Umgang mit überfordernden Gefühlen helfen.

Veraltete Strukturen der Selbsthilfe

Ines Simon erinnert sich: Für sie waren nach der Diagnose Gespräche mit zuvor erkrankten Freundinnen Balsam für die Seele. Eine Einrichtung wie das „Survivors Home“, in dessen Beirat sie sitzt, hat sie damals aber vermisst. Ihrer Erfahrung nach seien viele Selbsthilfegruppen und Angebote in ihrer Struktur veraltet.

Maike de Wit, die am Vivantes Klinikum in Neukölln die Klinik für Innere Medizin, Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin leitet, betont ebenfalls, wie wichtig neben der medizinischen Krebstherapie die Pflege der Psyche ist. Für psychoonkologische Betreuung gebe es aber flächendeckend nicht genug Kapazitäten, spezialisierte Angebote seien rar.

„Wir Ärzte haben im Klinikalltag oft nicht die Zeit, uns um die psychologischen Belange zu kümmern.“ Im „Survivors Home“ wird Chefärztin de Wit bald Beratungstermine anbieten. „Natürlich ist das keine richtige Sprechstunde, wir können bestimmte Untersuchungen nicht machen, keine Rezepte ausstellen, aber wir können wirklich mit viel Zeit beraten“, sagt die Vorsitzende des Onkologischen Tumorzentrums Süd.

Orte zum „ganz normal“ fühlen

Im gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Krebs gebe es noch immer Stigmatisierungen, Ausgrenzungen und Sprachlosigkeit, kritisiert Pregizer. Obwohl die Diagnose häufig ist, sagt Medizinerin de Wit, werde sie für die Öffentlichkeit noch oft als „Todesurteil“ gesehen und für Betroffene als tödliche Bedrohung empfunden. Dank früherer Diagnosen und besserer Therapien lebten Tumorpatienten aber heute oft viele Jahre mit der Diagnose. Sie brauchten deshalb Orte, wo sie sich „ganz normal“ fühlen könnten.

Für den Umgang mit Krebs gebe es kein Patentrezept, sagt Pregizer. „Uns geht es darum, die Menschen zu stärken, ihren eigenen Weg mit der Krankheit zu gehen. Es geht immer um den nächsten Schritt, nicht so um die ganze Strecke.“ Im „Survivors Home“ wolle man ihnen Mut machen, damit sie sagen könnten: „Es geht mir gut mit dem Krebs.“ (dpa)

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