Fußball-WM

"Titel und Tränen gehören zum Sport"

Alles oder Nichts: Die Fußball-Weltmeisterschaft ist vorbei. Jetzt beginnt die Arbeit der Sportpsychologen, damit die Profisportler an einem glanzvollen Sieg oder auch einer herben Niederlage reifen.

Von Rebecca Beerheide Veröffentlicht:
Ein Team, nicht nur Einzelspieler: die deutsche Mannschaft beim Abschlusstraining vor dem Halbfinale.

Ein Team, nicht nur Einzelspieler: die deutsche Mannschaft beim Abschlusstraining vor dem Halbfinale.

© Eibner/dpa

Ärzte Zeitung: Herr Kubowitsch, am Tag nach dem Finale einer Fußball-Weltmeisterschaft liegen Emotionen von Sieg und Niederlage eng beieinander. Beginnen wir mit den Verlierern: Sie stehen mit leeren Händen da, Träume sind zerplatzt. Wie können Spieler damit umgehen?

Karl Kubowitsch: Dazu gehören mehrere sportpsychologische Elemente: Zum einen muss die Tendenz zur Schwarz-Weiß-Malerei überwunden werden. Das bedeutet: Wer im Endspiel einer WM verliert, hat den Titel nicht geholt, aber steht nicht mit leeren Händen da.

Fragen Sie mal britische, spanische oder italienische Fans oder Fußballexperten. Das hilft natürlich nicht am Tag nach dem Finale, aber das ist eine mittelfristige Lösungsebene.

Die andere Ebene ist individuell auf den Spieler bezogen. Das ist analog zu einer Trauerreaktion zu sehen. Am ersten Tag weiß man noch nicht, ob es real oder nur geträumt ist. Gefühle und Gedanken muss man in dem Moment akzeptieren. Viele Spieler versuchen, das abzuhaken, aber das kommt erst am Ende des Prozesses.

Übrigens ist das auch bei Überraschungserfolgen möglich, dass ein Sieg tagelang nicht realisiert werden kann. In der zweiten Phase muss man die Trauer zulassen. In der dritten Phase sollte Abstand von der Niederlage gewonnen werden.

Sportpsychologe Dr. Karl Kubowitsch.

Sportpsychologe Dr. Karl Kubowitsch.

© privat

Und die vierte Phase beginnt, wenn man sich auf neue Ziele konzentriert. Spieler kommen dann zurück zur Heimmannschaft und es beginnt die Ausrichtung auf das Neue.

Aber es ist verfehlt zu glauben, dass die Phase des "Abhakens" einfach so passiert. Es ist wichtig, eine Struktur im Prozess zu haben. Fachlich bin ich ein Anhänger der Meinung, dass wir die Chance haben, an Niederlagen zu wachsen und stärker zu werden.

Wenn man auf der psychologischen Ebene handwerkliche Dinge berücksichtigt, können wir die Resilienz und Widerstandskraft massiv ausbauen.

Wie können fantastische Siege verarbeitet werden?

Sportpsychologisch beneiden uns alle Trainer dieser Welt darum, dass die deutschen Spieler beispielsweise diesen 7:1-Sieg gegen Brasilien als mentale Kraftquelle für die Zukunft in sich tragen. Allerdings kommt hier wieder die Leistung des Trainerstabes zum Zug: Die Situation nach einem deutlichen Sieg muss relativiert werden.

Der Triumph kann natürlich genossen werden, aber der Blick muss wieder nach vorne zum nächsten Ziel gehen. Das ist für ein Trainerteam eine anspruchsvolle, aber keinesfalls unlösbare Aufgabe.

Für die nächsten Spiele ist es wichtig, jedem Spieler klar zu machen, dass ein neues, für den Gegner nicht vorhersehbares Element der Schlüssel zum Erfolg beim nächsten Spiel ist. Und das erleichtert es, den Fokus wieder voll auf Vorbereitung zu richten.

Dr. Karl Kubowitsch

Aktuelle Position: Selbstständiger Diplompsychologe (GAP Gesellschaft für Angewandte Psychologie, Karl Kubowitsch und Partner / www.gap-web.de), Senior Coach BDP, Sportpsychologie BDP, Supervisor BDP, Biofeedback Therapeut DGBfb

Werdegang/Ausbildung: 1987 Abschluss des Psychologiestudiums in Regensburg, 2005 Promotion in Olmütz (Tschechien) mit einer Dissertation über Coaching

Viele deutsche Spieler haben es in ihrer Karriere erlebt, große Spiele zu gewinnen, aber auch zu verlieren. Wie kann man Stärke gewinnen?

Auch aus Niederlagen kann neue Stärke gewonnen werden, wenn man ein paar Prinzipien auf der psychologischen Ebene beachtet. Wenn man die vier Phasen durchlaufen hat, kann man mit etwas Abstand neue Ziele in den Mittelpunkt stellen.

Spätestens nach ein paar Monaten - zum Beispiel in der Winterpause der Ligen - sollten positive wie auch negative Erlebnisse intensiv reflektiert werden. Dies kann individuell, aber auch in der Mannschaft bearbeitet werden. Solche Erfahrungen lassen Sportler als Mensch und als Spielerpersönlichkeit reifen.

Immer wieder erlebt die Fußballwelt Mannschaften, die sich während eines Turniers zerstreiten. Was läuft gut in einem Kader, der es bis zum Endspiel fast acht Wochen miteinander ausgehalten hat und diesen äußeren Druck aushalten musste?

Die Problemlösung beginnt mit der Aufstellung des Kaders. Teamtauglichkeit und Teamfähigkeit gehören zum Anforderungsprofil für Spieler bei wichtigen Turnieren. Auch muss ein Trainer die richtigen Führungsspieler aussuchen, die nicht nur sportlich, sondern auch ein Team führen können.

Wer sportlich gut bis sehr gut ist, aber in der Wirkung auf die Gruppendynamik Schwächen zeigt, würde ich im Zweifelsfall zu Hause lassen.

Viele Teams sind mit absoluten Superstars angetreten - Brasilien mit Neymar, Portugal mit Ronaldo, Argentinien mit Messi. Deutschland hat dagegen ein Team. Wie bewerten sie diese Fokussierung auf Stars?

So ein Star ist erst mal ein Geschenk. Auch die Öffentlichkeit verlangt, dass ein Starspieler in die Mannschaft integriert wird. Für Sportpsychologen bedeutet das, dass sie diese Superstars motivieren müssen, sich in das Team einzufügen. Wobei das oftmals nicht komplett gelingt.

Wie würde ein Sportpsychologe die Superstars integrieren?

Mit Einzelgesprächen müsste bei den anderen Spielern um Verständnis für die Superstars geworben werden. Damit muss das Trainerteam zeigen, dass das restliche Team auch einmal drüber stehen muss, wenn sich der Superstar anders verhält. Einfach, weil er wertvoll für die Mannschaft ist.

Natürlich kann es wie bei Portugal passieren, dass der Unmut über die Sonderstellung von Ronaldo den Weg in die Medien findet. Solch eine Reaktion der Mannschaft ist psychologisch gesehen eine natürliche Korrekturreaktion. Denn Fußball ist keine Einzelsportart, sondern Mannschaftssport.

Wenn Superstars wie Brasiliens Neymar oder Messi von Argentinien von Medien aber auch vom Publikum so hochstilisiert werden, wie werden die dann bei einer Niederlage von der Mannschaft aufgenommen?

Es gibt zwei zentrale Mechanismen: Identifikation und Projektion. Bei der Projektion bewundern die Mitspieler den Star selber, auch die Öffentlichkeit kann in ihn Gefühle projizieren.

Identifikation bedeutet, dass das Team möchte, dass er Teil dessen wird und dabei zeigt, er fühlt sich als Teil der Mannschaft. Er bringt seine besonderen Fähigkeiten ein, um die gesamte Mannschaft noch besser zu machen.

Wenn beides erfüllt ist, greifen solche Mechanismen der Mannschaft, wie wir es jetzt bei Neymar sehen können. Das ganze Team steht trotz Verletzung hinter ihm.

Neymar ist für den aktuellen brasilianischen Fußball eine absolute Identifikationsfigur. Wie werden solche Spieler sportpsychologisch betreut?

Wichtig ist für eine Betreuung, aus welcher Kultur ein Spieler kommt. In Südamerika konzentriert man sich aus kulturellen Gründen noch stärker auf Superstars. Teilweise scheint das Selbstwertgefühl einer ganzen Nation daran zu hängen. In Deutschland haben wir zwar auch individualistische Züge, doch die Einbettung der guten Spieler in ein Team ist stärker.

Der Erwartungsdruck gehört zu jedem Sport, der öffentlich ausgetragen wird. Dieses Phänomen des Drucks ist zu erwarten, es kann negative Auswirkungen haben. Aber nach meiner fachlichen Einschätzung kann es sehr gut abgepuffert werden.

Wie würde man das machen?

Es gibt zwei Ebenen: Zum einen muss im gesamten WM-Kader eine positive Gruppendynamik entstehen. Es muss eine vernünftige Balance zwischen Abschotten und dem Zulassen von Stimmen von außen geben.

Denn je stärker man sich der Medienmeinung hingibt, und die positive und manchmal überharte Kritik an sich und an die Mannschaft heranlässt, um so schwieriger wird es, damit umzugehen. Dazu muss individuell mit dem Spieler über Druck gesprochen werden. Das gilt besonders für die, die ruhiger scheinen.

In Vier-Augen-Gesprächen werden die ermuntert, den Druck auch einmal rauszulassen. Der Erwartungsdruck muss als etwas Natürliches akzeptiert werden, er soll nicht verleugnet werden. Sportpsychologen arbeiten mit ihren Klienten dann daran, die Konzentration auf das zu lenken, was jetzt fachlich im Mittelpunkt steht: die richtigen Trainingseinheiten bis zum Spiel, dazwischen gezielte Regeneration. Den Spielern wird damit signalisiert, dass alle das richtige und wichtige fürs nächste Spiel tun.

Ist dies eine Taktik, wie man nach sehr guten oder auch schlechten Spielen mit der medialen Kritik umgeht?

Kritik komplett von sich fernhalten funktioniert nicht. Was ich rate: Das Ziel ist, dass Spieler 50 Prozent von dem streichen, was über sie in den Medien geschrieben oder gesagt wird, ganz gleich, ob es positiv oder negativ ist. Um die Wirkung zu entfalten, beginnen wir mit dem Positiven. Das ist unerwartet für die Spieler.

Denn die wollen erst einmal, dass ihnen ein Psychologe sagt, wie er sich gegen das Negative abschotten kann. Und ich sage ihnen: Medien und Öffentlichkeit wollen Titel, Tränen und Triumphe. Das ist Teil des Profisports. Das heißt auch, dass ein Spieler mal hochgejubelt, mal ungerecht kritisiert wird.

Also: Streich jeweils die Hälfte des Positiven und des Negativen, dann fällt es leichter, auch mit der überharten Kritik umzugehen.

Welche Auswirkungen auf eine nationale Liga hat ein Titelgewinn? Für europäische Mannschaften geht demnächst ja auch wieder die EM-Qualifikation los.

Generell gilt: Nach dem Turnier ist vor dem Turnier. Es können unheimlich positive Dynamiken freigesetzt werden, wenn so ein Titel gewonnen wird. Alle Vereine in den Ligen werden beflügelt dadurch, nicht nur die Spieler, die jetzt in Brasilien spielen. Dieses gestärkte Selbstbewusstsein wird mit in den eigenen Verein, aber auch in den Fußball des ganzen Landes transportiert. Die Dynamik kann sich bis in den Freizeitsport hinein entfalten.

Und welche Auswirkungen hat eine Niederlage auf das Liga-Geschehen?

In den Fußballnationen werden Titel erwartet, da muss man sich seiner eigenen Stärken bewusst werden. Vor allem die Cheftrainer werden daran gemessen, Titel nach Hause zu holen. Daher wird der öffentliche Druck am Stärksten auf dem Nationaltrainer lasten. Wobei ein Trainer auf die Leistungen seiner Spieler im Endspiel nur noch bedingt einfluss nehmen kann. Es sei den, er hätte sich taktisch verzockt.

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