Großbritannien

Brexit-Votum hat spürbare Folgen für den NHS

Ausländische Ärzte, die "nach Hause geschickt" werden sollen, wenn man sie "nicht mehr braucht", Kranke, die zunächst nach Ausweis und Kontostand gefragt werden sollen, das britische Gesundheitswesen ist kaum wiederzuerkennen.

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Ein Leitartikel von Arndt Striegler

Diese Woche begann in Großbritannien gleich mit einem gesundheitspolitischen Paukenschlag – Gesundheitsminister Jeremy Hunt stellte in London seine Pläne vor, wie ein uraltes Problem des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) endlich gelöst werden könne: Schwindlern, die sich im Königreich Gesundheitsleistungen ergaunern, ohne dafür zu bezahlen, das Handwerk zu legen. Dreistellige Millionen-Beträge jährlich, so schätzt das Londoner Gesundheitsministerium, kostet der wenig regulierte Gesundheitstourismus das Königreich jährlich.

Die neuen Pläne, die von April an gelten sollen, sehen vor, ausländische Patienten nur noch dann zu behandeln, wenn diese vor Behandlungsbeginn belegen können, dass sie entweder anspruchsberechtigt sind, oder dass sie für ihre Therapie bezahlen können und wollen. Laut Hunt könne der NHS auf diese Art und Weise jährlich umgerechnet bis zu 580 Millionen Euro zusätzlich einnehmen.

"Naiv und realitätsfern"

Freilich dauerte es nicht lange, bis sich Ärzteschaft und andere Kritiker zu Wort meldeten, um dem Minister "Naivität" und "Realitätsverlust" vorzuwerfen. Zum einen sei der Verwaltungsaufwand in den Praxen und Kliniken, jeden Patienten zukünftig auf dessen Anspruchsberechtigung hin zu überprüfen, so groß, dass die meisten erwarteten Mehreinnahmen durch Bürokratie gleich wieder aufgefressen würden. "Das lohnt nicht, denn es kostet zuviel."

Zum anderen zeigt dieser jüngste gesundheitspolitische Vorstoß der Regierung May, wie stark sich die britische Gesellschaft und das britische Gesundheitswesen seit dem Brexit-Votum verändert haben und sich weiter verändern. Veränderungen, die Sorge bereiten – egal ob Brexit-Fan oder nicht. Ärzte und Pflegekräfte berichten, dass ausländerfeindliche Übergriffe in den Kliniken und Hausarztpraxen seit dem Brexit stark zugenommen haben. Laut offiziellen Zahlen des Londoner Gesundheitsministeriums hat sich die Zahl der ausländerfeindlichen Angriffe auf NHS-Personal seit dem Brexit-Votum "mehr als verdoppelt". Ärzte und Pflegepersonal meldeten inzwischen "täglich" ausländerfeindliche Übergriffe. In diesem Jahr rechnet das Ministerium landesweit mit mehr als 500 rassistisch motivierten Straftaten gegen medizinisches Personal. 2015 waren es 225 Übergriffe.

Ausländer dringend benötigt

"Das ist ein Alarmsignal, ausländische Ärzte bringen dringend benötigte Qualifikationen in unsere Kliniken und Praxen. Ohne ausländische Ärzte würde unser NHS nicht funktionieren", so die Sprecherin der British Medical Association (BMA) Dr. Anthea Mowat. Laut offiziellen Statistiken stammt heute jeder dritte Arzt und jede fünfte Pflegekraft nicht aus Großbritannien. Strichprobenartige Checks der "Ärzte Zeitung" in großen Londoner Kliniken, darunter dem St. Thomas Hospital und dem Chelsea and Westminster Hospital, die zu den größten des Landes gehören, ergaben, dass zum Beispiel in der Ambulanz und auch auf diversen Stationen deutlich mehr als die Hälfte der diensthabenden Ärzte und Pfleger Ausländer sind. "Ohne unsere ausländischen Kolleginnen und Kollegen könnten wir hier einpacken", so ein diensthabender Arzt im St. Thomas Hospital zur "Ärzte Zeitung". Der Mediziner bevorzugt es, seinen Namen nicht in der Zeitung zu lesen.

Laut Londoner Gesundheitsministerium stellten staatliche britische Kliniken im Haushaltsjahr 2012/13 lediglich 65 Prozent der Behandlungskosten von ausländischen Patienten, die nicht aus der EU kamen, in Rechnung. Neuere Zahlen waren auf Anfrage nicht erhältlich. Und: Lediglich 16 Prozent der Behandlungskosten von EU-Patienten, die dem NHS eigentlich hätten erstattet werden müssen, flossen laut Ministerium zurück nach Großbritannien. Oft scheint es eine ineffiziente NHS-Verwaltung zu sein, die verhindert, dass mehr Rechnungen bezahlt werden.

Zwar weisen Ökonomen darauf hin, dass Großbritannien im Vergleich zu Ländern wie Deutschland und Frankreich sein Gesundheitswesen deutlich unterfinanziert. Dass führende britische Politiker, darunter der amtierende Gesundheitsminister und die Premierministerin selbst, trotzdem ausländische Patienten ungeniert für Missstände und Versorgungsengpässe im NHS verantwortlich machen können und dabei nur wenig Widerspruch erfahren, zeigt, wie stark sich Britannien seit dem Brexit-Votum verändert hat. Ein Wandel, der nicht nur Ärzten Sorge bereitet.

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