Interview

"Der Facharzt kommt nur selten ins Heim"

Demenzkranke bekommen, wenn sie einmal in ein Pflegeheim eingezogen sind, kaum mehr einen Facharzt zu sehen. Die meisten erhalten auch keine Antidementiva. Daran wird, fürchtet Günther Sauerbrey, Vice President bei Merz Pharmaceuticals, wohl auch die jüngste Pflegereform nichts ändern.

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Der Hausarzt, wie hier im Bild, kommt häufiger ins Heim, nicht so die Fachärzte.

Der Hausarzt, wie hier im Bild, kommt häufiger ins Heim, nicht so die Fachärzte.

© Foto: imago

Ärzte Zeitung: Herr Sauerbrey, Sie beklagen eine nicht ausreichende medizinische Versorgung in Pflegeheimen, vor allem von Demenzkranken. Wie macht sich das bemerkbar?

Günther Sauerbrey: Die meisten Heimbewohner können, weil ihre Mobilität stark eingeschränkt ist, keinen Arzt außerhalb des Heims aufsuchen. Sie sind darauf angewiesen, dass der Arzt zu ihnen ins Heim kommt. Viele Allgemeinmediziner leisten in den Pflegeheimen eine hervorragende Arbeit. Aber die fachärztliche Versorgung ist weitgehend ausgeblendet.

So wird, wie die SÄVIP-Studie zeigt, nur etwa ein Drittel der Heimbewohner regelmäßig, also einmal pro Quartal, von einem Neurologen oder einem Psychiater betreut. Aber allein nach Einschätzung des Pflegepersonals sind 53 Prozent der Bewohner dement. Die tatsächliche Prävalenz geben Wissenschaftler sogar mit 66 Prozent an.

Ärzte Zeitung: Woran liegt es, dass die meisten Demenzpatienten, wenn sie erst einmal im Pflegeheim sind, keine fachärztliche Betreuung erhalten?

"Der Gesetzgeber muss die Krankenkassen motivieren, für eine bessere medizinische Versorgung in den Heimen zu sorgen." Günther Sauerbrey Merz Pharmaceuticals

Sauerbrey: Das hat sicherlich mehrere Gründe. In das Heim kommt der Facharzt in der Regel nur dann, wenn der betreuende Allgemeinmediziner oder der Hausarzt seinen Fachkollegen darum bittet. Das stellt bereits eine gewisse Hürde dar. Auch ökonomische Gründe spielen eine Rolle, das muss man klar sehen, für den Facharzt ist der Besuch aufwendig und er wird unzureichend honoriert.

Ärzte Zeitung: Was ist mit den Angehörigen, die könnten doch den Facharztbesuch fordern?

Sauerbrey: Das geschieht fast nie, wie die SÄVIP-Studie ergeben hat. Den Angehörigen ist oft nicht bewusst, dass das Recht auf freie Arztwahl fortbesteht. Letztlich bleibt es daher der Initiative des Heims und der Pflegekräfte überlassen, einen Facharzt zu rufen. An dieser Initiative fehlt es oft. Der Demenzkranke fällt regelrecht in eine Versorgungslücke. Und es gibt kaum eine andere Patientengruppe, die so sehr davon beeinträchtigt ist wie die der Demenzkranken.

Ärzte Zeitung: Erhoffen Sie sich eine Verbesserung der Situation durch die Pflegereform?

Sauerbrey: Leider nein. Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz wird an dieser Situation nichts ändern. Es geht darin im Wesentlichen nur um die Qualität der Pflege. Nirgendwo im Gesetz ist dargestellt, dass die Heime auch motiviert werden sollten, die Organisation der medizinischen Versorgung, etwa in ihrem Leistungsprofil, zu beschreiben. Das wäre aber sehr wichtig.

Es ist doch recht interessant für das Treffen einer Heimentscheidung, zu wissen: Arbeitet das Pflegeheim X mit einem Kreis niedergelassener Ärzte zusammen und welche Ärzte gehören zu diesem Netzwerk? Besteht eine solche Kooperation oder gibt es einen Heimarzt? Arbeitet das Pflegeheim mit einer gerontopsychiatrischen Ambulanz zusammen? Das bleibt weitgehend im Dunkeln, das erschließt sich nicht durch die Reform.

Ärzte Zeitung: Bringt die Pflegereform, was die medizinische Versorgung in den Heimen angeht, wirklich kein Quäntchen Fortschritt?

Sauerbrey: Es gibt den neuen Paragrafen 119 b, der in das SGB V eingefügt wurde. Danach können Pflegeheime auch mit eigenen angestellten Ärzten an der vertragsärztlichen Versorgung von Heimbewohnern teilnehmen, wenn keine Kooperationsverträge mit niedergelassenen Ärzten zustande kommen. Das soll die Kassen motivieren, aktiv zu werden.

Ich habe aber wenig Hoffnung, dass sich durch diese Regelung in der Praxis etwas ändert. Mit dem GKV-WSG wurde ja auch schon in Paragraf 140 SGB V die Möglichkeit geschaffen, Pflegekassen und Pflegeeinrichtungen in Verträge zur integrierten Versorgung einzubeziehen. Ein Workshop, den das Zukunftsforum Demenz zu diesem Thema veranstaltet hat, hat aber gezeigt, dass die Krankenkassen angesichts der Einführung des Gesundheitsfonds nicht bereit sind, weitere integrierte Versorgungsmodelle anzubieten. Sie fürchten, dass sie unter die Ertragsschwelle geraten und Zusatzbeiträge erheben müssen. Noch haben die Krankenkassen kein Interesse daran, dass Pflegekassen Geld sparen.

Ärzte Zeitung: Sie haben die unzureichende Honorierung des Heimbesuchs angesprochen. Ist diese mit dem EBM 2008 Ihrer Meinung nach spürbar besser geworden?

Sauerbrey: Nein, ganz und gar nicht. Der EBM 2008 erhöht die Punktzahl für den Mitbesuch von 195 auf 215 Punkte. Das ist Kleingeld. Übertragen etwa auf die KV Thüringen oder die KV Hessen sind das sechs Euro für den Mitbesuch. Ich halte es für beklemmend, dass die Honorare so niedrig sind, dass Ärzte, wenn sie rational denken und handeln, es sich eigentlich nicht leisten können, in die Pflegeheime zu gehen.

Ärzte Zeitung: Wie ist es um die medikamentöse Versorgung von Demenzkranken bestellt?

Sauerbrey: Es gibt eine ganze Reihe von Heimen, in denen überhaupt keine Therapie mit Antidementiva stattfindet, in der SÄVIP-Studie traf dies auf 110 von 700 beteiligten Heimen zu. In weiteren 83 Heimen erhalten nur fünf Prozent der Bewohner solche Medikamente.

Und es gab in der Studie höchstens fünf bis zehn Heime, bei denen 60 Prozent der Bewohner, also der Prävalenz entsprechend, Antidementiva erhalten. Dagegen entsprach zum Beispiel die Versorgung mit Herz-Kreislauf-Medikamenten der Prävalenz.

Es besteht übrigens eine Korrelation zwischen der Facharztversorgung und der Verordnung von Antidementiva. Das ist kein implizierter Vorwurf an die Allgemeinärzte. Vielmehr haben wir ein zweifaches Problem, auf der einen Seite die Regressangst, auf der anderen Seite braucht der Hausarzt auch die kollegiale Unterstützung vom Spezialisten. Wenn der Neurologe den Allgemeinarzt bestärkt und sagt, ja, die Therapie mit Antidementiva ist aufgrund der gesicherten Diagnose richtig, dann ist sicherlich die Befürchtung einer Honorarkürzung geringer.

Ärzte Zeitung: Wie viel Budgetdruck ist begründet? Es gibt ja schon einen Preisunterschied zwischen einem Antidementivum und zum Beispiel einem Blutdrucksenker, den man im Herz-Kreislauf-Bereich einsetzt.

Sauerbrey: Die klinischen Daten zeigen, dass die Antidementiva den Zustand des Patienten durchaus ein bis zwei Jahre stabilisieren können. Das geht einher mit einer Erleichterung der Pflege und dem Hinauszögern der Einweisung ins Pflegeheim. Wenn Sie einmal davon ausgehen, dass im Schnitt die Tagestherapie um die drei bis vier Euro kostet, und das vergleichen mit einem Aufenthalt im Pflegeheim, dann ist die Arzneimittelversorgung immer noch wirtschaftlich. Der Gesetzgeber muss die Krankenkassen endlich motivieren, dafür zu sorgen, die medizinische Versorgung so zu gestalten, dass unnötige Ausgaben in der Pflege vermieden werden. Das Teure ist die Pflege, die medizinische Versorgung und insbesondere die Arzneimittel sind vergleichsweise preiswert.

Es ist ein Irrtum wenn behauptet wird, die medizinische Versorgung von Demenzkranken kostet viel Geld. Von daher ist eine medizinische Unterversorgung nicht zu rechtfertigen. So zeigt beispielweise eine Studie zu Memantine, dass der Betreuungsaufwand mittelschwer bis schwer Demenzkranker um 51 Stunden pro Monat reduziert werden kann. Deshalb war es nur folgerichtig, dass wir uns als Anbieter um das Thema der medizinischen Versorgung in Pflegeheimen Gedanken gemacht haben.

Ärzte Zeitung: Ist der Heimarzt eine Lösung?

Sauerbrey: Ich bin kein Anhänger eines Heimarztmodells, das würde ja wieder nur bedeuten: Ein Arzt für ein Heim. Ich hielte es für gut, dass jedes Heim ein verlässliches Netzwerk mit niedergelassenen Ärzten organisiert und damit sicherstellt, dass sowohl die allgemeinärztliche als auch die fachärztliche Versorgung geregelt ist und dies auch als Qualitätskriterium transparent gemacht wird. Ich halte es nach wie vor für richtig, dass wir die freie Arztwahl hochhalten. Wenn ein Bürger in ein Heim einzieht, ist ja sein niedergelassener Hausarzt häufig noch der einzige Mensch, den er kennt. Den sollte man ihm nicht wegnehmen, aber das Heim sollte darauf achten, dass bestimmte fachärztliche Disziplinen vorgehalten werden.

Das Gespräch führten Marlinde Lehmann und Bertold Schmitt- Feuerbach

Zur Person

Günther Sauerbrey ist Vice President Merz Pharmaceuticals und Gründer des Zukunftsforums Demenz.

Studie zeigt Defizite in Heimen auf

Um die medizinische Versorgung von Heimbewohnern ist es nicht gut bestellt. Das hat die im Herbst 2005 erschienene SÄVIP-Studie (Studie zur ärztlichen Versorgung in Pflegeheimen) offengelegt. Diese Untersuchung basiert auf Stellungnahmen von 782 Heimen mit insgesamt knapp 65 000 Plätzen in Deutschland.

Zentrales Ergebnis der Studie: 80 Prozent der meist multimorbiden Bewohner suchen wegen eingeschränkter Mobilität keinen Arzt in Praxen außerhalb des Heimes auf.

Kommt ein Arzt zu ihnen ins Heim, dann meist auf Veranlassung des Pflegepersonals. Während der frühere Hausarzt oder der niedergelassene Allgemeinmediziner oder Internist noch häufig gerufen wird, finden Besuche von Fachärzten in Heimen äußerst selten statt. Besonders selten kommt der Neurologe oder Psychiater in die Heime, obwohl zwei Drittel der Heimbewohner Demenzpatienten sind.

Die Studie kann man von der Internetseite des vom Frankfurter Pharmaunternehmen Merz initiierten Zukunftsforums Demenz herunterladen:

www.zukunftsforumdemenz.de/broschueren

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