Interview

"Die Qualität der Versorgung wird völlig ausgeblendet"

Harsche Kritik übt die Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK Birgit Fischer an der geplanten Gesundheitsreform. Bis auf die Versicherten würden alle Akteure aus der Kostenverantwortung entlassen, sagt Fischer im Interview mit der "Ärzte Zeitung". Sie fordert mehr Spielraum für Kassen, um neue Versorgungsformen zu erproben.

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Wettbewerb im Gesundheitswesen darf nie Selbstzweck sein: Birgit Fischer, Vorstandschefin der Barmer GEK.

Wettbewerb im Gesundheitswesen darf nie Selbstzweck sein: Birgit Fischer, Vorstandschefin der Barmer GEK.

© Popow/imago

Ärzte Zeitung: Wie geht es der Barmer GEK ein halbes Jahr nach der Fusion?

Birgit Fischer: Das Geschäftsergebnis ist positiv, allein im ersten Halbjahr haben sich über 260 000 Menschen für die Barmer GEK entschieden, so dass wir mit nunmehr rund 8,6 Mio. Versicherten unsere Marktführung ausbauen konnten. Zudem haben wir die Fusion als Chance für einen Modernisierungsschub in der eigenen Organisation genutzt.

Ärzte Zeitung: Was bedeutet das für einen Zusatzbeitrag bei der Barmer GEK?

Fischer: Wir werden definitiv ohne Zusatzbeitrag in das Jahr 2011 starten.

Ärzte Zeitung: Nun hat die Bundesregierung Eckpunkte für eine Gesundheitsreform vorgelegt. Können Sie auf dieser Basis die Haushaltsplanung für 2011 angehen?

Fischer: Immerhin ist nun in Umrissen erkennbar, in welche Richtung die Bundesregierung gehen will. Das betrifft beispielsweise das zu erwartende Defizit im Jahr 2011. Konkrete Daten und Fakten wird wohl erst der Gesetzentwurf liefern.

Ärzte Zeitung: Klare Aussagen enthalten die Eckpunkte mit Blick auf die Zukunft der Zusatzbeiträge und den Sozialausgleich...

Fischer: …hier gibt es in der Tat eine Weichenstellung. Der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberbeitrag werden eingefroren. Alle künftigen Kostensteigerungen laufen demnach in den Zusatzbeitrag hinein. Der geplante Sozialausgleich dürfte allein deshalb schwierig werden, weil er von einem durchschnittlichen Zusatzbeitrag ausgeht, der vom Bundesversicherungsamt (BVA) ermittelt wird. Unter Umständen ergibt sich der absurde Fall, dass ein gesetzlich Versicherter eine Rückerstattung erhält, obwohl er gar keinen Zusatzbeitrag zahlt. Das ist rational schwer nachvollziehbar.

Ärzte Zeitung: Wie bewerten Sie das Modell von Wettbewerb, das in diesem Konzept erkennbar wird?

Birgit Fischer

Aktuelle Position:
Werdegang/Ausbildung:
Karriere:(rbü)

Fischer: Wettbewerb im Gesundheitswesen darf niemals Selbstzweck sein, sondern muss Wettbewerb um die Qualität der Versorgung sein. Dieses Ziel fehlt mir völlig in den Eckpunkten. Man hat heute schon entschieden, wer künftig der Zahler sein soll, nämlich der Versicherte. Alle anderen Akteure werden aus der Verantwortung für künftige Kostensteigerungen entlassen.

Ich plädiere dafür, alle Strukturen in der Versorgung auf den Prüfstand zu stellen. Sie müssen auf Kooperation und Gesundheitspartnerschaft ausgerichtet sein. Dafür brauchen Krankenkassen mehr Spielraum, um neue Versorgungsformen zu erproben.

Ärzte Zeitung: Bei 8,6 Millionen Versicherten verfügt die Barmer GEK über einen großen Pool von Versorgungsdaten. Was machen Sie damit?

Fischer: Unser Motto heißt: Aus Daten Wissen zu gewinnen. Dabei ist Versorgungsforschung sehr wichtig, um beispielsweise Erkenntnisse darüber zu erhalten, wo Behandlungsverläufe bei einem bestimmten Krankheitsbild verbessert werden können. Wir haben im Gesundheitswesen ein viel größeres Wissen, als in der Versorgung tatsächlich realisiert wird. Die Barmer GEK betreibt eigene Versorgungsforschung, damit dieses Wissen gezielter angewendet wird.

Ärzte Zeitung: Die Eckpunkte der Regierung sehen vor, dass die Vergütung bei Hausarztverträgen auf das Niveau der KV-Vergütung begrenzt werden soll. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Fischer: Ich halte die hausärztliche Versorgung für sehr wichtig. Allerdings wird mit dem derzeitig geltenden Paragrafen 73 b ein Monopol für einen Vertragspartner festgeschrieben. Die Budgetbereinigung reißt eine neue Kluft zwischen Haus- und Fachärzte, anstatt Kooperationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Wir würden trilaterale Verträge bevorzugen, bei denen die Kassenärztliche Vereinigungen eingebunden sind.

Ärzte Zeitung: Was passiert mit den Hausarztverträgen, die gegenwärtig in Schiedsverfahren stecken?

Fischer: Das weitere Verfahren ist momentan völlig unklar, weil die Eckpunkte nicht rechtsverbindlich sind. Wir suchen hier eine zeitnahe Klärung mit dem Bundesgesundheitsministerium.

Ärzte Zeitung: Welchen Stellenwert haben Selektivverträge für die Barmer GEK im Vergleich zum Kollektivvertrag?

Fischer: Wir sehen Einzelverträge als sinnvolle Ergänzung zum Kollektivvertrag. Dabei setzen wir auf einen Wettbewerb um die beste Lösung. Dazu gehören Qualität und Preis gleichermaßen. Das gelingt nur, wenn alle Stärken der Vertragspartner in einem Versorgungskonzept gebündelt werden - zum Nutzen der Patienten. Allerdings sollte ein Erkenntnisgewinn durch regionale Verträge auf den Kollektivvertrag zurückgespiegelt werden, um die Versorgung in der Fläche zu verbessern.

Ärzte Zeitung: Das Arzneimittel-Neuordnungs-Gesetz (AMNOG) sieht als Option vor, dass einzelne Kassen anstatt des GKV-Spitzenverbands mit den Herstellern über einen Erstattungspreis verhandeln. Will die Barmer GEK diese Möglichkeit nutzen?

Fischer: Das ist nicht die Art von Wettbewerb, die wir meinen. Ein Hersteller, der für Verhandlungen seine eigenen Studien zugrunde legt, wird immer Informationsvorteile haben. Die Aufgabe der Preisfestsetzung wäre eher bei einem unabhängigen Institut anzusiedeln...

Ärzte Zeitung: ...beim Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen?...

Fischer: Ja, aber bei einem "aufgewerteten" IQWiG, das nicht nur Beratungs-, sondern auch Entscheidungskompetenz hätte.

Die Fragen stellten Wolfgang van den Bergh und Florian Staeck.

Lesen Sie dazu auch: Barmer GEK warnt vor verzerrtem Wettbewerb

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