Eigene Expertise entscheidet die Therapie

ESSEN (HL). Ärzte orientieren sich zwar an Leitlinien und externer evidenzbasierter Medizin - im Praxisalltag und bei konkreten Therapieentscheidungen ist aber die persönliche Erfahrung ausschlaggebend. Die Verkürzung der evidenzbasierten Medizin allein auf externe Expertise werten viele Ärzte als einen politischen Angriff auf ihre Profession. Sie kann auch Konflikte mit einer Medizin auslösen, die sich patientenorientiert versteht.

Veröffentlicht:

Das sind wesentliche Ergebnisse einer Studie von Health Econ, die im Auftrag des Arzneimittelherstellers Pfizer erarbeitet und jüngst beim Gesundheitskongress des Westens in Essen vorgestellt worden ist. Sie basiert auf einer Umfrage unter 104 Hausärzten, 209 Fachärzten und 365 Patienten. Die Fragen bezogen sich auf Therapieentscheidungen und Patientenpräferenzen in den Indikationen Rückenschmerzen, rheumatoide Arthritis, Asthma/COPD, Diabetes mellitus Typ 2 und Schizophrenie.

Erfahrung - das hängt auch stark von der Fachgruppe ab

Evidenzbasierte Medizin wird als Kochbuch-Medizin missbraucht.

Generell gilt: Therapieentscheidungen, etwa über den Einsatz von Arzneimitteln, stützen sowohl Haus- als auch Fachärzte primär auf ihre eigenen Erfahrungen ab. An zweiter Stelle stehen die Arbeit in Qualitätszirkeln und der Meinungsaustausch mit Kollegen. Wie weit die eigene Erfahrung ausschlaggebend ist, kommt auch darauf an, wie häufig der Arzt mit einem bestimmten Krankheitsbild konfrontiert wird. Beispiel Schizophrenie: Hier vertraut der Hausarzt nur zu 41 Prozent auf eigene Erfahrung, mit ebenfalls 41 Prozent ist der Meinungsaustausch mit einem Fachkollegen genauso wichtig. Anders bei Neurologen: Dieser Fachgruppe ist das Krankheitsbild Schizophrenie vertraut - also greifen 68 Prozent auf eigene Erfahrungen zurück.

KV-Informationen landen auf dem letzten Rang

Nur jeder zehnte Hausarzt bevorzugt Originalstudien als wichtige Informationsquelle für Therapieentscheidungen. Fachärzte, insbesondere Pneumologen, tun dies häufiger. Sie nutzen auch weitaus häufiger Cochrane Reviews als Informationsquelle. Keinen Einfluss hat hingegen die Informations- und Beratungstätigkeit der KV auf Therapieentscheidungen der Ärzte.

Eigene Erfahrung und Qualitätszirkel zählen
Die wichtigsten Informationsquellen der Hausärzte für Therapieentscheidungen
 
Rücken-/
Kreuzschmerz
Rheumatoide Arthritis
Asthma/
COPD
Diabetes
Typ 2
Schizophrenie
Eigene Erfahrung
76 %
61%
61 %
66 %
43 %
Meinungsaustausch mit
Kollegen / Qualitätszirkel
29 %
33 %
31 %
41 %
41%
Ärztl. Fortbildungsveran-
staltungen / Kongresse
27 %
32 %
33 %
28 %
30 %
Herstellerinformation /
Pharmareferent
21 %
23 %
20 %
18 %
22 %
Empfehlung von Berufsverbänden u. Fachgesesellschaften
13 %
14 %
16 %
13 %
19 %
Übersichtsartikel
11 %
10 %
8 %
7 %
11 %
Originalstudien
9 %
10 %
12 %
8 %
12 %
Eigene Literaturrecherche
4 %
4 %
8 %
9 %
7 %
Information / Beratung der
Krankenkassen
3 %
3 %
5 %
4 %
3 %
Cochrane Reviews (EBM)
3 %
3 %
2 %
3 %
4 %
Internetportale für Fachkreise
2 %
2 %
1 %
K.N.*
4 %
Information / Beratung der KVen
2 %
5 %
3 %
2 %
3 %
*K.N. (keine Nennung) Quelle: Health Econ, Tabelle: ÄRZTE ZEITUNG

Externe Evidenz und persönliche Erfahrung werden von den meisten Ärzten aber offenbar nicht als Widerspruch empfunden, sondern als Ergänzung, und zwar unter verschiedenen Aspekten möglicher Begründungen für Therapieentscheidungen. Die Haltung zur evidenzbasierten Medizin ist dabei allerdings auch von der Skepsis geprägt, dass sie sich nicht immer auf den Praxisalltag adaptieren lässt. Typische Aussagen der Ärzte sind:

  • "Hinsichtlich der Verordnung von Innovationen lasse ich mich mehr vom Nutzen dieser Arzneimittel als ihren Kosten beeinflussen." Dem stimmen, je nach Arztgruppe, zwischen 56 und 70 Prozent der Ärzte zu.
  • "Viele meiner Patienten haben mehrere Erkrankungen. Für diese Patienten habe ich keine evidenzbasierten Empfehlungen." Das sagen zwischen 53 und 68 Prozent der Ärzte.
  • "Evidenzbasierte Medizin ist ein Mittel, den Zugang von Innovationen zu reglementieren." Diesem Statement stimmen zwischen 45 und 62 Prozent der Ärzte zu.

Mit 30 Prozent sind Hausärzte am geringsten davon überzeugt, dass evidenzbasierte Medizin die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert, die Zustimmung bei Orthopäden, Pneumologen und Diabetologen ist mit knapp der Hälfte deutlicher ausgeprägt. Nur jeder vierte Hausarzt glaubt, dass evidenzbasierte Medizin Arzneiausgaben spart, nur Diabetologen weichen mit 42 Prozent Zustimmung von diesem Urteil ab. Etwa 40 Prozent der befragten Ärzte sehen die Gefahr, dass evidenzbasierte Medizin politisch als Kochbuchmedizin missinterpretiert wird.

Im oft nicht einfachen Praxisalltag scheint es den Ärzten allerdings durchweg zu gelingen, den Erwartungen der Patienten zu genügen. Das zeigen die hohen Vertrauenswerte, die zwischen 80 und 95 Prozent liegen. Zwischen 70 und über 80 Prozent der befragten Patienten haben das Gefühl, dass ihr Arzt die neuesten Medikamente verschreibt - eine Ausnahme sind Diabetiker, die dies nur zu 60 Prozent glauben. Zwischen 80 und 90 Prozent der Patienten sind der Meinung, dass sich ihr Arzt ausreichend Zeit nimmt, über die Krankheit zu sprechen. Über 90 Prozent sagen, der Arzt beantworte Fragen verständlich.

Ärzte sind aber offenbar nicht willfährig, wenn es um Patientenwünsche geht: Nur etwa jeder zweite Patient sagt, dass sein Arzt ihm eine Wunschverordnung erfüllt. Jeder Zweite sagt, er halte nichts davon, seinem Arzt zu sagen, welche Therapie er anwenden soll. Dabei suchen Patienten durchaus aktiv nach Informationen über ihre Krankheit. 60 Prozent der Patienten mit Rückenschmerz nutzen häufig das Internet, etwas weniger sind es bei Rheuma, Asthma/COPD und Diabetes .

Für Patienten wichtig: einfach anzuwendende Arzneien

Aus Patientenperspektive besonders entscheidend sind beim Einsatz von Arzneimitteln deren einfache Anwendung, gute und rasche Wirksamkeit (erst an zweiter Stelle) und gute Verträglichkeit. Diese Rangfolge zeigt deutliche Unterschiede zu den Zielparametern, die üblicherweise in klinischen Studien untersucht werden.

FAZIT

Im wohlverstandenen Sinne praktizieren Haus- und Fachärzte evidenzbasierte Medizin. Sie kombinieren externe Evidenz (in geringem Umfang allerdings aus Originalstudien) mit persönlicher Expertise und individuellen Patientenbedürfnissen. Eine wichtige Lernquelle für alle Ärzte sind Qualitätszirkel und der Meinungsaustausch unter Kollegen.

Jetzt abonnieren
Schlagworte:
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Abrechnungsanwendung „Adel“

Abrechnung: KVWL setzt bei Hybrid-DRG auf eigene Anwendung

Umstellung der Verschlüsselung

KVWL: Ablaufdaten bei eHBA und SMC-B-Karte prüfen

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Gegen unerwartete Gesprächssituationen gewappnet

Tipps für MFA: Schlagfertigkeit im Praxisalltag

Lesetipps
HSK im Fokus: Der Hauptstadtkongress 2024 findet von 26. bis 28. Juni in Berlin statt.

© Rolf Schulten

Themenseite

Hauptstadtkongress: Unsere Berichte im Überblick

Zu hohe Drehzahl: Hochtouriges Fahren überhitzt bekanntlich den Motor und beschleunigt den Reifenabrieb. Genauso kann zu viel L-Thyroxin, speziell bei Älteren, nicht nur Herz und Kreislauf überlasten, sondern auch die Knochen schwächen.

© Michaela Illian

Überbehandlung mit Folgen

Schilddrüsenhormone: Zu viel L-Thyroxin bringt Knochen in Gefahr