COVID-19

Experten wollen weg von 7-Tage-Inzidenz

Was sagen Werte wie „50 Neuinfektionen binnen sieben Tagen auf 100.000 Einwohner“ aus? Nicht genug, sagt eine Gruppe von Wissenschaftlern und Praktikern: Sie ruft die Regierung zum Umdenken bei Daten und Kommunikation auf.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Einen neuen Blick auf die Infektionszahlen fordert eine Gruppe von Experten.

Einen neuen Blick auf die Infektionszahlen fordert eine Gruppe von Experten.

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Berlin. An der Interpretation der aktuellen Entwicklung der Pandemie in Deutschland scheiden sich die Geister. Gesundheitsminister Jens Spahn lobt die Bevölkerung und natürlich auch die Regierungen in Bund und Ländern dafür, dass es gelungen sei, ein zweites Mal „die Welle zu brechen“, wenn auch auf deutlich höherem Infektionsniveau.

Eine Gruppe von Experten, zu denen die ehemaligen Gesundheitsweisen Professor Matthias Schrappe (Universität Köln) und Professor Gerd Glaeske (Universität Bremen) gehören, sieht dagegen gar keine Welle, die gebrochen werden könnte, sondern ein kontinuierliches Ansteigen der Zahlen. Sie fordert, den „Tunnelblick auf nicht optimale Strategien“ zu verändern und in der Risikokommunikation auch positive Nachrichten hervorzuheben.

Konzepte für Schutzbedürftige werden benötigt

Um gegensteuern zu können, bedürfe es repräsentativer Kohortenstudien und Konzepte gezielt für schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen, heißt es in einem am Sonntagnachmittag verbreiteten Papier. Bei einer asymptomatisch übertragenen Infektionserkrankung könne eine Strategie der Kontaktverfolgung alleine nicht wirken.

Wichtigste Voraussetzung für einen Strategiewechsel seien valide Zahlenwerte. Es sei nahezu ausgeschlossen, dass sich die Zahl der neu aufgetretenen Infektionen alleine aus den Ergebnissen in der getesteten Population ablesen lasse. Berichte über Seroprävalenzen ließen die Annahme zu, dass in Deutschland bislang nicht rund eine Million Infektionen aufgetreten seien, sondern bis zu sechs Millionen. Würde man erste Ergebnisse einer Massentestung in der Slowakei auf Deutschland hochrechnen, erhielte man statt der derzeit rund 130.000 Neuinfektionen in der Woche einen Wert von knapp 950.000, heißt es in dem Thesenpapier. Damit entbehre die Annahme, dass während der Wintermonate Zahlen wie im Sommer erreicht werden könnten, „jeder Grundlage“, schreiben die neun Autoren.

Die multidisziplinäre Gruppe bezeichnet in ihrem sechsten Diskussionsbeitrag seit Beginn der Pandemie einen Strategiewechsel als unvermeidlich. Die Autoren, darunter auch der BKK-Dachverbandsvorsitzende Franz Knieps und die ehemalige Pflegedienstleiterin der Charité Hedwig Francois-Kettner, zweifeln die der aktuellen Politik von Bund und Ländern zugrunde liegenden Zahlen an. Positiv ausfallende Testergebnisse würden auf die Bevölkerungen der Regionen umgerechnet. Nicht berücksichtigt werde dabei aber die Dunkelziffer an Infektionen in der nicht getesteten Bevölkerung.

Die in der vergangenen Woche ins Infektionsschutzgesetz geschriebenen Ziele von 35 beziehungsweise 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner seien daher „unrealistisch und verletzen das zentrale Gebot der Erreichbarkeit“. Man müsse davon ausgehen, dass sie „keinerlei messtechnische Zuverlässigkeit“ aufwiesen.

Abkehr von der 7-Tage-Inzidenz empfohlen

Die Autoren schlagen daher vor, die „7-Tage-Melderate“ durch einen Index zu ersetzen, der stärker zwischen der sporadischen Ausbreitung und leichter zu kontrollierenden Clustern wie zum Beispiel in einem Fleisch verarbeitenden Betrieb differenziert. Steige der relative Anteil an sporadisch Infizierten, nehme das Risiko zu. Um auch die Schwere der Infektionen besser abzubilden, sollte dieser Index mit der Hospitalisierungsrate der mit SARS-CoV-2 Infizierten verknüpft werden, bei der wiederum der zeitliche Abstand zwischen Infektion, Diagnose und Krankenhauseinlieferung berücksichtigt werden müsse. Insgesamt sei die Hospitalisierungsrate trotz des Anstiegs an Infektionen derzeit im Sinkflug. Dies gelte auch für die Mitarbeiter in Krankenhäusern und in Pflegeeinrichtungen. Ihre Sterblichkeit sinkt seit Juni zudem kontinuierlich.

Gleichwohl steigen die Zahlen der auf Intensivstationen behandelten COVID-19 Patienten, wiewohl nicht immer ersichtlich werde, ob die Intensivpflichtigkeit mit oder wegen Corona ausgelöst werde. Irritierend sei in diesem Zusammenhang, dass seit Wochen die verfügbaren Intensivbetten absolut abnähmen, schreiben die Fachleute. Es stelle sich die Frage, ob es sich dabei um Betten handeln könnte, die in den Krankenhausplänen als solche ausgewiesen seien, und für die während der ersten Lockdown-Phase gleichzeitig Fördermittel und Freihaltepauschalen geflossen seien.

Die Expertengruppe hat seit April mehrere Thesenpapiere veröffentlicht. Außer den genannten gehören zu den Autoren: Hedwig Francois-Kettner, ehemalige Pflegedienstleiterin der Charité; Dr. Matthias Gruhl, Amtsarzt und ehemals Gesundheitsbehörde Hamburg; Professor Dieter Hart, Jurist, Uni Bremen; Professor Philip Manow, Politikwissenschaftler, Uni Bremen; Professor Holger Pfaff, u. a. Innovationsausschuss; Uni Köln; Professor Klaus Püschel, Rechtsmediziner, UKE Hamburg.

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