Kammerchef bezichtigt Kassen der Lüge bei Arztzahlen

MÜNSTER (iss). Der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL), Dr. Theodor Windhorst, wirft den Kassen vor, mit veralteten Bedarfsplanungszahlen verantwortungslos zu hantieren.

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Dr. Theodor Windhorst kritisiert, dass die Kassen den Patienten signalisierten, es gebe mit Blick auf die Arztzahlen keine Probleme.

Dr. Theodor Windhorst kritisiert, dass die Kassen den Patienten signalisierten, es gebe mit Blick auf die Arztzahlen keine Probleme.

© Reiner Zensen / imago

Die Behauptung des GKV-Spitzenverbands, in Deutschland seien 12.000 Praxen überflüssig, sei "eine Lüge wider besseres Wissen", sagte Windhorst in Münster. "12.000 Ärzte wegzurationalisieren wäre für die Patienten desolat."

Pfeiffer hatte sich bei ihrer Aussage auf eine Studie des Prognos-Instituts gestützt. Dieses Gutachten sei schon deshalb problematisch, weil es auf den Bedarfsplanungszahlen des Jahres 1991 basiere, sagte Windhorst.

"Eine Chimäre zu sagen, alles ist in Ordnung"

Sie seien zur Erfassung der aktuellen Situation nicht mehr geeignet. "Wir haben heute ganz andere Kriterien, um Versorgungsnotwendigkeiten zu prüfen."

Er habe kein Verständnis dafür, dass die Kassen den Patienten signalisierten, es gebe mit Blick auf die Arztzahlen keine Probleme. "Wir haben heute noch ausreichend Ärzte, wir haben morgen eine Verknappung, und wir haben übermorgen definitiv zu wenig", sagte Windhorst.

Angesichts der langen Ausbildungszeiten für Mediziner müsse jetzt gehandelt werden. "Es ist eine Chimäre zu sagen, alles ist in Ordnung."

Demografische Entwicklung ein Indiz für drohenden Ärztemangel

Nicht ohne Grund habe sich die Zahl der Stellenanzeigen im "Deutschen Ärzteblatt" in den vergangenen Jahren verzehnfacht, betonte ÄKWL-Vizepräsident Dr. Klaus Reinhardt. Auch die demografische Entwicklung sei ein relativ sicheres Indiz für den drohenden Ärztemangel. "Wer mit falschen Zahlen Politik betreibt, handelt unverantwortlich."

Die Kassen hätten sich lange Zeit gar nicht mit den Arztzahlen befasst, sagte Reinhardt. Erst das - zumindest theoretische - Ende der Deckelung des Gesamthonorars habe das Thema ins Blickfeld der Kassen rücken lassen.

"Erst jetzt bekommen sie wieder Interesse, sich überhaupt mit dem Versorgungsgeschehen auseinander zu setzen."

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 12.07.201119:05 Uhr

Eiförmige Kinderüberraschung?

Auch wenn ich mit den Kollegen Dr. Theodor Windhorst und ÄKWL-Vizepräsident Dr. Klaus Reinhardt keineswegs immer konform gehe, ihre Vorwürfe an den Spitzenverband der GKV-Kassen sind mehr als berechtigt.

Es ist absolut windig von der Vorsitzenden des GKV-Spitzenverbands, Dr. Doris Pfeiffer, zu behaupten, in Deutschland seien 12.000 Praxen überflüssig. Denn das von ihr in Auftrag gegebene, mit den Beiträgen der GKV-Versicherten u n d der Arbeitgeber finanzierte Gutachten der schweizerischen PROGNOS-AG ist nicht mal das Papier wert, auf dem es gedruckt wurde.

Bei meiner inhaltlichen Analyse waren die Bedarfsplanungszahlen des Jahres 1991-1992 in Ermangelung aktueller, empirisch begründeter Zahlen gar nicht erst kritisiert worden. Es war als Prognos-Datenbasis dilettantisch genug, sie zu verwenden. Objektiver statistischer Unsinn ist aber die Prognos-Grundannahme, dass „Überversorgung in der jeweiligen Arztgruppe" ab "einem Versorgungsgrad von 110 %" vorliegt. "Eine Unterversorgung wird dagegen ab einem Versorgungsgrad von 75 % (Hausärzte) bzw. 50 % (übrige Fachärzte) vermutet." Ü b e r versorgung ab plus 10 Prozent, U n t e r versorgung bei minus 25 Prozent bzw. minus 50 Prozent ist keine Gauß'' sche Verteilungskurve, sondern eher eine eiförmige Kinderüberraschung.

Und so geht es bei Prognos munter weiter: N i c h t etwa Gewinn-und-Verlust-Rechnungen als betriebswirtschaftliche Analyse (BWA) führten zu fundierter Betrachtung der von den KVen zu liquidierenden überflüssigen Haus- und Facharztsitze. Nein "vom GKV-Spitzenverband zur Verfügung gestellte Umsatzwerte" der Vertragsärzte waren Datengrundlage. Dementsprechend kleingerechnet wurden die Kosten für aufzulösende Vertragsarztsitze:
Radiologen 211.000 bis 324.000 Euro,
fachärztliche Internisten 108.000 bis 246.000 Euro,
Kinderärzte 75.000 bis 116.000 Euro,
Hausärzte 75.000 bis 107.000 Euro,
Psychotherapeuten 31.000 bis 44.000 Euro.
Alle Zahlen nach
https://www.gkv-spitzenverband.de/upload/Gutachten_Aufkauf_Arztpraxen_110630_16991.pdf

Jetzt könnte man Häme unterstellen, weil wir Ärzte nur auf völlig veralteten Zahlen herumreiten, wo den "armen" Prognos-Gutachtern keine aktuelleren zur Verfügung standen. Doch dieser böse Vorwurf ist ungerecht.
Um exorbitante Anstiege der Vertragsärztezahlen nachzuweisen, zauberten die Prognos-Leute blitzartig die Neuesten aus dem Hut: "bis zum Jahr 2010" hätten sie sich "auf aktuell 138.472 erhöht"! Dagegen habe es 1993, also mitten im Aufbau-OST, "im gesamten Bundesgebiet 115.469 Vertragsärzte" gegeben. In sieben Jahren ein Plus von 19,92 % entspricht einem j ä h r l i c h e n Anstieg um 2,85 Prozent.

Aber selbst wenn Prognos und der GKV-Spitzenverband zugeben, dass der Versorgungsgrad hausärztlicher Praxen bundesweit g e n e r e l l nur bei 100% und regional deutlich darunter liegt: Sie erteilen unmissverständlich den Selbstverwaltungsorganen ''gute Ratschläge'', wie sie möglichst viele Facharztpraxen liquidieren können. Und wir Hausärztinnen und Hausärzte sind dann als nächstes dran?

Mf+kG, Dr. med Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund


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