Gesetzliche Krankenversicherung
Krankenkassenbeiträge für Bürgergeld-Beziehende: GKV will Milliarden-Ansprüche einklagen
Gesundheitsministerin Warken setzt eine Sparkommission für die GKV ein, der GKV-Spitzenvenband soll ausstehende Beiträge für Bürgergeldempfangende einklagen – und Ökonomen stellen noch ganz andere Fragen an das System.
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Zieht vor Gericht: Der GKV-Spitzenverband in Berlin bereitet eine Milliarden-Klage vor.
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Berlin. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zieht vor Gericht, wenn möglich bis vor das Bundesverfassungsgericht. Auslöser sind die als nicht auskömmlich geltenden Beiträge, die der Staat den Krankenkassen für die Versorgung der Bürgergeldbezieherinnen und -bezieher überweist.
Der Zeitpunkt, diesen Schritt bekannt zu geben, kommt nicht von ungefähr. Am Freitag will Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) die Mitglieder einer Expertenkommission bekanntgeben. Diese Kommission soll auch zu Leistungskürzungen in der GKV beraten.
„Denkverbote“ dürfe es dabei nicht geben, hat Warken angekündigt. Die Ministerin hat allerdings bereits kurz nach ihrem Amtsantritt Sympathie für den Vorschlag geäußert, die Beiträge für Bürgergeldempfangende komplett aus Steuermitteln zu finanzieren.
Jahr für Jahr bleibe der Bund den gesetzlichen Krankenkassen rund zehn Milliarden Euro schuldig, rechneten die Vorsitzenden des Verwaltungsrats Dr. Susanne Wagenmann für die Arbeitgeberseite und Uwe Klemens für die Arbeitnehmerseite am Donnerstag vor.
Dies entspreche 0,5 Beitragssatzpunkten. „Wir wollen die Subventionierung des Bundeshaushalts aus den Beiträgen der Versicherten an dieser Stelle beenden“, betonten die Vorsitzenden des GKV-Verwaltungsrats. Der Rat sei sich darin einstimmig einig gewesen. Hätten die Kassen die fehlenden Mittel zur Verfügung, würde das Geld für die Versorgung ausreichen.
200 Milliarden Euro an Fehlbeträgen
Seit Bestehen dieser Problematik seien rechnerisch bereits bis zu 200 Milliarden Euro an Fehlbeträgen aufgelaufen, rechnete Klemens vor. „Ein schamloser, ungezügelter Griff in die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung“, sagte er, nachdem der Verwaltungsrat den Beschluss gefasst hatte, die möglichen Ansprüche einzuklagen.
Dazu hat er den GKV-Spitzenverband beauftragt, die Prozessführung zu übernehmen. „Wir erleben bei den Beiträgen für Bürgergeldbeziehende, dass sich der Staat auf Kosten der GKV-Versicherten entlastet“, sagte Wagenmann.
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74 der 94 Krankenkassen mit rund 70 Millionen Versicherten haben sich bereits hinter die Klage gestellt, teilte der Spitzenverband mit. Insgesamt verzeichnet die GKV rund 74,6 Millionen Versicherte.
Der Vorgang wurde am Donnerstag im Bundestag zur Kenntnis genommen. „Die Klage des GKV-Spitzenverbandes ist ein längst überfälliges Signal für eine gerechte Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung“, sagte das Mitglied im Gesundheitsausschuss Linda Heitmann von Bündnis 90/Die Grünen. Die Bundesregierung sei an dieser Stelle in der Verantwortung.
BKK-Dachverband spricht von Skandal
„Der Staat komme seiner Verantwortung nicht nach“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Techniker Krankenkasse, Dr. Jens Baas. Es sei eine staatliche Aufgabe, die medizinische Versorgung von Menschen am Existenzminimum im Krankheitsfall abzusichern, betonte Baas.
Die Beiträge, die der Staat an die Kassen zahle, deckten jedoch nur etwa ein Drittel der tatsächlichen Kosten. Die Klage berühre daher eine „Gerechtigkeitsfrage“.
Die Vorständin des BKK-Spitzenverbandes, Anne-Kathrin Klemm, nannte es am Donnerstag einen Skandal, dass die Bundesregierung plane, die gesetzlich Versicherten im laufenden und kommenden Jahr lediglich mit Darlehen zur Stützung der Beiträge „abzuspeisen.
Reformperspektiven
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Als „großen Hebel“ bezeichnet Professor Simon Reif vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) die Beiträge der Gesetzlichen Krankenversicherung für die rund 5,5 Millionen Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger.
Ein höherer Beitrag der Bundesagentur für Arbeit für die Krankenversicherung dieses Personenkreises könne den Krankenkassen und den Beitragszahlenden eine dringend benötigte Verschnaufpause verschaffen, sagte Reif am Donnerstag.
Kosten wandern von einem Topf in den anderen
Für nachhaltig hält der Leiter der Forschungsgruppe „Gesundheitsmärkte und Gesundheitspolitik“ des ZEW eine solche Lösung allerdings nicht: Die Kosten würden so nur von einem Topf in den anderen verschoben.
Die Diskussion über Beitragserhöhungen verkenne, dass genug Geld im System vorhanden sei. „Deutschland hat im europäischen Vergleich mit die höchsten Gesundheitsausgaben“, sagte Reif. Strukturelle Reformen müssten daher insbesondere an der Ausgabenseite ansetzen.
Der ZEW-Ökonom Friedrich Heinemann brachte am Donnerstag einen weiteren Aspekt in die Diskussion ein. „Genau wie bei den Beiträgen für Bürgergeldempfänger stellt sich auch bei anderen Versicherten die Frage nach dem fairen Beitrag“, sagte Heinemann.
Versicherte könnten durch Verringerung ihrer Arbeitsstunden ihre Beiträge mindern, so dass eine Akademikerin in freiwilliger Teilzeit weniger Beiträge leistet als ein Erzieher in Vollzeit. Das GKV-System müsse sich angesichts des steigenden Anteils an Teilzeitbeschäftigten dieser Diskussion stellen. (af)