Plädoyer für Palliativmedizin

Mediziner: Sterben und Trauer sind aus dem Gleichgewicht

Tod, Sterben und Trauer sind nach Ansicht von Palliativmedizinern in vielen Ländern aus dem Gleichgewicht geraten. Mit hohem Aufwand wird versucht, den Tod hinauszuschieben. In einer Studie fordern sie eine Kehrtwende.

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Mehr Menschlichkeit und weniger Maschinen braucht es am Lebensende: Dieses Fazit ziehen Palliativmediziner in einer Lancet-Studie.

Mehr Menschlichkeit und weniger Maschinen braucht es am Lebensende: Dieses Fazit ziehen Palliativmediziner in einer Lancet-Studie.

© ArVis/stock.adobe.com

Berlin/London. Schmerz- und Palliativmediziner beklagen eine Übermedikalisierung des Todes in den Industrieländern. Eine „Commission on the Value of Death“ (Kommission zum Wert des Todes) fordert jetzt in der Fachzeitschrift „Lancet“ ein radikales Umdenken.

Tod, Sterben und Trauer sind nach Ansicht der Autoren in vielen Ländern aus dem Gleichgewicht geraten. Technologischer und medizinischer Fortschritt hätten die Vorstellung genährt, den Kampf gegen den Tod mit allen Mitteln zu führen - anstatt dafür zu sorgen, dass unnötiges Leiden vermieden werde, heißt es in dem Bericht, wie das „Deutsche Ärzteblatt“ in seiner jüngsten Ausgabe berichtet. „Das bedeutet, dass zu viele Menschen weltweit einen schlechten Tod sterben.“

Die Art, wie Menschen sterben, hat sich laut Bericht in den vergangenen 60 Jahren dramatisch verändert - aus einem häuslichen Ereignis mit gelegentlicher medizinischer Hilfe sei ein medizinisches Ereignis mit begrenzter familiärer Begleitung geworden. In Krankenhäusern und Heimen sterben in vielen Ländern inzwischen zwischen 70 und 90 Prozent. Zu Hause sterben nach den Recherchen der Palliativmediziner nur zwischen 12,9 Prozent (Kanada) und 35,1 Prozent (Andalusien) der Menschen. Für Deutschland liegen die Schätzungen bei 20 Prozent.

Menschliche Beziehungen werden durch Fachleute ersetzt

Viele Menschen begegneten dem Tod nur noch in Krankenhäusern und Heimen. Familien würden an den Rand gedrängt. Menschliche Beziehungen und Netzwerke würden durch Fachleute und Behandlungsprotokolle ersetzt, heißt es.

Für das Team um die Palliativmedizinerin Libby Sallnow vom St. Christopher’s Hospice in London - hier wurde die weltweite Hospizbewegung begründet - hat die COVID-19-Pandemie vor Augen geführt, welches Ausmaß die Medikalisierung des Todes inzwischen erreicht hat. Zahllose Patienten seien ohne Aussicht auf Überleben auf Intensivstationen behandelt worden, wo sie starben, ohne dass sie Kontakt zu ihren Familien hatten: für die Sterbenden ein einsamer Tod, für die Trauernden ein traumatisches Erlebnis.

Die Kosten für die Behandlung von tödlichen Erkrankungen sind ebenfalls gestiegen. Für Behandlungen im letzten Lebensjahr entfallen laut Bericht zwischen 8,5 Prozent (USA) und 11,2 Prozent (Taiwan) der Gesamtausgaben für die Krankenbehandlung. Besonders hoch sind sie bei Krebserkrankungen - während der Lebensgewinn, den eine Krebsbehandlung in diesem Stadium erziele, in der Regel gering sei. Auf der anderen Seite gebe es eine steigende Anzahl von Menschen, die an behandelbaren Erkrankungen sterben, weil kein Geld für lebensrettende Maßnahmen oder zur Schmerzlinderung zur Verfügung stehe, beklagen die Palliativmediziner.

Sterbende und Trauernde brauchen mehr Unterstützung

Die „Commission on the Value of Death“ fordert ein radikales Umdenken: Menschen müssten stärker unterstützt werden, damit sie ein gesünderes Leben führen und einen angemessenen Tod sterben könnten. Außerdem müsse das Sterben stärker als ein Beziehungs- und spiritueller Prozess begriffen werden. Das bedeute, dass Sterbende und Trauernde mehr unterstützt werden müssten. So könnten Pflegenetzwerke gegründet werden, die neben Fachleuten auch Familien und Gemeindemitglieder umfassen. Darüber hinaus müssten Tod, Sterben und Trauer wieder zu einem Bestandteil des alltäglichen Lebens gemacht werden; die Menschen müssten lernen, dass der Tod ein wertvoller Teil des Lebens sei, denn „ohne den Tod wäre jede Geburt eine Tragödie.“

Als beispielhaft wird die Situation im indischen Bundesstaat Kerala bewertet. Dort gibt es laut Studie seit drei Jahrzehnten eine breite soziale Bewegung, die sich um eine bessere palliativmedizinische Versorgung bemüht. Angefangen hat es 1993 mit einer Initiative zweier Ärzte, die sich für eine verbesserte Schmerzbehandlung von Schwerkranken einsetzten. 2001 sei die Dachorganisation „Neighbourhood Network in Palliative Care“ gegründet worden, die die Ausbildung und Mitarbeit von Laien organisiert. Seit 2008 gibt es eine staatliche Palliativpolitik. Inzwischen seien Zehntausende von Freiwilligen ausgebildet worden. Mit 1.600 Palliativpflegediensten befänden sich 80 Prozent dieser Einrichtungen aus ganz Indien im Bundesstaat Kerala. (KNA)

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