Priorisierung in Schweden - Lehrstück für Deutschland

Vehement hat die Bundesärztekammer beim Deutschen Ärztetag 2009 eine offene Priorisierungsdebatte gefordert. Richtig in die Gänge gekommen ist die Diskussion nicht.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler will sie durch seine Reform überflüssig machen, Ulla Schmidt nannte sie einst "menschenverachtend": Die Priorisierung von Gesundheitsleistungen wird in Deutschland nur in Fachdiskursen erörtert, auf politischer Bühne ist sie ein Nicht-Thema.

Allerdings unterstützt der Staat über die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ein interdisziplinäres Projekt zum Thema "Priorisierung in der Medizin", für das sich Forscher aus zwölf deutschen Universitäten zusammengeschlossen haben. Sie haben sich der Aufgabe verschrieben, "Grundlagen für eine mögliche explizite Priorisierung" von Gesundheitsleistungen zu erforschen. Dabei liegt eine Innovation des Projekts darin, in umfangreichen Befragungen die Präferenzen von gesunden und kranken Menschen, Ärzten, Pflegemitarbeitern sowie Kostenträgern und Politikern zu ermitteln.

Eine 2009 erschienene Publikation zeigt die Breite der - noch nicht abgeschlossenen - Studien auf und gibt zudem einen Einblick in Regelungsstrategien anderer Länder. Dabei sticht Schweden heraus, wo man sich schon seit den 90er Jahren mit dem Thema beschäftigt hat. Anders als in Deutschland wird dort die Debatte über Ressourcenknappheit nicht am negativ besetzten Begriff der Rationierung festgemacht.

Den Auftakt des Verständigungsprozesses bildete dort bereits 1992 eine schwedische Parlamentskommission. Sie formulierte drei ethische Prinzipien, die bis heute den Rahmen der Priorisierungsdebatte in dem skandinavischen Land vorgeben, nämlich das Prinzip der Menschenwürde, das Prinzip des Bedarfs und der Solidarität und das Prinzip der Kosteneffizienz.

Einen ihrer Ausgangspunkte fand die Diskussion in Schweden in der Sorge, "dass ökonomische Kriterien Entscheidungen über Ressourcenallokationen im Gesundheitswesen dominieren würden", schreiben die Autoren Thorsten Meyer und Heiner Raspe.

Obwohl der schwedische Reichstag in den 90er Jahren den Boden für eine Priorisierung bereitet hat, nahm die Diskussion einen ganz anderen Verlauf. Neben einzelnen Versuchen, auf regionaler Ebene im stark dezentralisierten Gesundheitswesen die Vorrangigkeit von Leistungen festzuschreiben, ist vor allem die Versorgungsleitlinie Kardiologie ein Testfeld für Priorisierung gewesen.

Darin wurde nach umfangreichen Beratungen eine Liste von 118 Priorisierungsbewertungen erstellt, in der spezifische Erkrankungszustände (medical conditions) mit medizinischen Interventionen zu Paaren verknüpft und in einer Rangliste geordnet wurden.

Die behandelnden Ärzte aber haben diese Leitlinie keineswegs als - ethisch fundierte - Aufforderung zur Priorisierung, sondern als klinische Leitlinie wahrgenommen.

Hier wird dann auch deutlich, was Schweden von Deutschland trennt: Veränderungen im Gesundheitswesen werden dort nicht durch staatliche Reglementierungen, sondern durch soziale Diskurse bewirkt.

Die schwedische Kardiologie-Leitlinie, die vermeintliche Blaupause für Rationierung, entpuppte sich als intraprofessionelle Verständigung über Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von medizinischen Maßnahmen. Eine rational so abgeklärte Debattenkultur ist in Deutschland bei diesem Thema bisher schwer vorstellbar.

Walter A. Wohlgemuth/Michael H. Freitag (Hrsg.): Priorisierung in der Medizin. Interdisziplinäre Forschungsansätze. Medizinisch-Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2009. ISBN 978-3-939069-85-0.

Schlagworte:
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema
Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

© AspctStyle / Generiert mit KI / stock.adobe.com

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Ein Medikament unter vielen, das wenigen hilft? 2400 Wirkstoff-Kandidaten in der EU haben den Orphan-Drug-Status.

© artisteer / Getty Images / iStock

Wirkstoff-Kandidaten mit Orphan-Drug-Status

Orphan Drugs – Risiken für ein Modell

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa)
Ein junges Mädchen wird geimpft – gegen HPV? (Symbolbild mit Fotomodellen)

© milanmarkovic78 / stock.adobe.com

Vision Zero Onkologie

Die Elimination des Zervixkarzinoms

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Vision Zero e.V.
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Risikofaktoren identifiziert

Für wen könnten Harnwegsinfekte gefährlich werden?

Systematisches Review und Metaanalyse

Antidepressiva absetzen: Welche Strategie ist am wirksamsten?

Metaanalyse

Subjektive Krankheitsbelastung bei Krebs prognostisch relevant

Lesetipps
Übersichtsarbeit: Wie wirken Hochdosis-, rekombinante und mRNA-Vakzinen verglichen mit dem Standardimpfstoff?

© Sasa Visual / stock.adobe.com

Übersichtsarbeit zu Grippeimpfstoffen

Influenza-Vakzinen im Vergleich: Nutzen und Risiken

Serotoninkristalle, die ein Muster ergeben.

© Michael W. Davidson / Science Photo Library

Für wen passt was?

Therapie mit Antidepressiva: Auf die Nebenwirkungen kommt es an