Weltmeister beim Jammern, Champion bei der Kostendämpfung

Die Deutschen und ihr Gesundheitswesen - es ist die Geschichte von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Berufskritiker und Funktionäre reden das System schlechter als es ist, wie ein internationaler Vergleich zeigt.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:

Lücken in der ärztlichen Versorgung, zu viele Mediziner in Ballungsregionen, Mangel auf dem Land, eine Diskussion, wie überbelastete Ärzte durch Aufwertung von Pflege- und Assistenzpersonal entlastet werden könnten, und nicht zuletzt gebetsmühlenartige Forderungen nach angemessener Honorierung - Deutschlands Ärztefunktionäre sind beim Jammern Weltmeister.

Mag sein, dass gemessen an einem paradiesischen Ideal Arbeitsbedingungen wie Arbeitsergebnisse im deutschen Gesundheitswesen höchst unbefriedigend erscheinen. Da aber das Paradies kein realistisches Gesellschaftsmodell ist, wäre ein Vergleich zwischen Deutschland und dem Rest der Welt eher sinnvoll. Und geeignet, die notorische deutsche Übellaunigkeit zu vertreiben. Als Stimmungsaufheller sei die jüngste OECD-Statistik "Health at a Glance 2009" empfohlen. Sie vergleicht für insgesamt 30 Industrieländer die wichtigsten Parameter.

Was heißt hier "teuer"? - Die Perspektive entscheidet

Ist Gesundheit in Deutschland (zu) teuer? Das kommt auf die Perspektive an. Die für Deutschland schlechteste ist der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt: Mit 10,4 Prozent (2007) haben die Deutschen das viertteuerste Gesundheitssystem der Welt - nach den USA, Frankreich und der Schweiz. Etwas günstiger sieht es dann aus, wenn man den Anteil der Gesundheitsausgaben am Konsum der Haushalte betrachtet: Mit 14,9 Prozent liegt Deutschland an sechster Stelle.

Betrachtet man jedoch die Pro-Kopf-Ausgaben, umgerechnet in Kaufkraft-Paritäten, dann erweist sich das deutsche Gesundheitssystem sogar als kostengünstig: Mit 3588 US-Dollar liegt Deutschland auf Platz 10. Neben dem Spitzenreiter USA (7290 Dollar) liegen Länder wie Norwegen, die Schweiz, Luxemburg oder sogar die Niederlande teils weit vor den Deutschen.

In einem Punkt ist Deutschland sogar Champion: bei der Kostendämpfung. In den Jahren von 1997 bis 2007 stiegen die realen Gesundheitsausgaben durchschnittlich jährlich nur um 1,7 Prozent. Im Durchschnitt aller OECD-Länder waren es 4,1 Prozent. Die als Sparbrötchen bekannten Niederländer hatten ein doppelt so hohes Wachstum wie die Deutschen (3,5 Prozent), und mit einem Wachstum von jährlich 4,9 Prozent versuchten die Briten, den Versorgungsengpässen in ihrer Staatsmedizin zu begegnen.

Im internationalen Vergleich relativiert sich auch die Klage über den Ärztemangel. 1,5 Allgemeinärzte kommen auf 1000 Einwohner in der Bundesrepublik - 0,9 sind es im OECD-Schnitt. Außerdem: "Regional sind die Ärzte in Deutschland gleichmäßiger verteilt als in fast allen anderen OECD-Ländern."

Wie berechtigt ist die Klage über unzureichende Vergütung niedergelassener Ärzte? Die OECD-Statistiker haben dies am Durchschnittslohn der jeweiligen Staaten gemessen: Danach verdient ein Allgemeinmediziner in Deutschland das 3,3-Fache des Durchschnittslohns. Nur in Großbritannien, Mexiko und den USA ist die Spreizung größer. Mit dem 4,1-Fachen finden sich die Fachärzte im Mittelfeld von 14 OECD-Ländern.

Besonders frappierend ist die Feststellung der OECD, dass der Nachwuchs bei Krankenpflegern und Krankenschwestern in Deutschland deutlich schlechter gesichert ist als bei den Ärzten. Die Lautstärke der öffentlichen Debatte darüber verhält sich reziprok. Anders als bei den Ärzten sind in der übrigen OECD Mitarbeiter in der Pflege deutlich besser bezahlt als in Deutschland.

Vehement beklagt wird seit Jahren die mangelnde Performance deutscher Medizin. 80 Jahre alt wird der Bundesbürger im Schnitt. Das ist nur Platz 14. Aber die Japaner, seit Langem Spitzenreiter, werden nur 2,6 Jahre älter, die weitaus meisten Länder mit besseren Werten als Deutschland liegen nur um wenige Monate günstiger. An der Medizin liegt dies kaum.

Defizitär ist die Prävention - vor allem bei Kindern

Die Daten zeigen aber auch dringenden Handlungsbedarf - vor allem bei der Prävention. Rund ein Fünftel der Kinder unter 15 raucht, das ist der drittschlechteste Platz. 16 Prozent der 15-jährigen Jungen sind übergewichtig, elf Prozent bei den Mädchen, und hier mit beängstigendem Zuwachs. Vom Niveau her ist das OECD-Durchschnitt. Aber wenn nichts passiert, nähert sich Deutschland den USA an: dort sind 30 Prozent der Jugendlichen übergewichtig.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Kritik braucht Maßstäbe

Schlagworte:
Mehr zum Thema

Medizinforschungsgesetz

Regierung: Ethikkommission beim Bund bleibt unabhängig

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

„ÄrzteTag“-Podcast

Was steckt hinter dem Alice-im-Wunderland-Syndrom, Dr. Jürgens?

Stabile Erkrankung über sechs Monate

Erste Erfolge mit CAR-T-Zelltherapien gegen Glioblastom

Lesetipps
Die Empfehlungen zur Erstlinientherapie eines Pankreaskarzinoms wurden um den Wirkstoff NALIRIFOX erweitert.

© Jo Panuwat D / stock.adobe.com

Umstellung auf Living Guideline

S3-Leitlinie zu Pankreaskrebs aktualisiert

Gefangen in der Gedankenspirale: Personen mit Depressionen und übertriebenen Ängsten profitieren von Entropie-steigernden Wirkstoffen wie Psychedelika.

© Jacqueline Weber / stock.adobe.com

Jahrestagung Amerikanische Neurologen

Eine Frage der Entropie: Wie Psychedelika bei Depressionen wirken