Eine Mutter berichtet

Wenn die eigene Tochter zur Organspenderin wird

Das eigene Kind ist so schwer verletzt, dass es keine Hoffnung mehr gibt. In einer solchen Situation will man als Angehöriger nicht über eine Organspende entscheiden, sagt Tamara Schlitter. Die Endoskopie-Fachpflegerin hat es als große Hilfe empfunden, dass ihre Tochter einen Organspendeausweis hatte.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Teilnehmer der Feier zum Gedenken an Organspender in Halle (Saale) bilden ein Herz – das Symbol für Organspende.

Teilnehmer der Feier zum Gedenken an Organspender in Halle (Saale) bilden ein Herz – das Symbol für Organspende.

© DSO

Gießen/Halle. Drei Jahre ist es jetzt her, dass Tamara Schlitters Tochter Hanna starb. Es ist der 30. November 2016, als die 21-Jährige unter bis heute ungeklärten Umständen mit ihrem Auto von der Straße abkommt und auf einem Feld einen Baum streift.

Es ist der einzige Baum weit und breit, ihr Auto bleibt nahezu unversehrt, allerdings trifft sie ein Ast so hart am Kopf, dass es zu einer Hirnblutung kommt. Eine Zeugin sagt später aus, dass ein Rettungswagen im Einsatz den Unfall herbeigeführt habe, revidiert jedoch kurz darauf ihre Aussage.

„Alles an diesem Unfall war auf merkwürdige Art und Weise tragisch“, sagt Tamara Schlitter. Ein Rettungshubschrauber bringt ihre stark unterkühlte Tochter ins Uniklinikum Gießen. Als Tamara Schlitter nachmittags dort eintrifft, teilt man ihr mit, dass Hannas Hirnblutung bereits in einem Stadium sei, in dem es keine Hoffnung mehr auf Heilung gebe.

Hanna Schlitter besaß seit ihrem 18. Lebensjahr einen Organspendeausweis. Den trug sie auch am Unglückstag bei sich. „Ich bin sehr froh, dass meine Tochter diesen Ausweis hatte“, sagt Tamara Schlitter heute. „Denn für Angehörige ist die Entscheidung, ob sie einer Organspende zustimmen sollen, in einer solchen Situation unzumutbar.“

„Man hofft auf ein Wunder“

Die 50-Jährige arbeitet als Endoskopie-Fachpflegerin an der Neurologischen Klinik in Bad Salzhausen. Daher kannte sie das Prozedere einer Hirntoddiagnostik und wusste, dass das Schicksal ihrer Tochter unausweichlich war.

„Dennoch will man das als Angehöriger nicht wahrhaben“, sagt sie im Rückblick, „und hofft die ganze Zeit auf ein Wunder. Das eigene Kind atmet ja noch und ist warm, und wenn man seinen Arm streichelt, kann es vorkommen, dass er zuckt. Wie soll man in einer solchen Situation denn entscheiden, ob das Kind Organe spenden soll?“

Die Mediziner an der Uniklinik Gießen seien sehr professionell vorgegangen und hätten ihrer Tochter höchsten Respekt entgegengebracht, sagt Tamara Schlitter. Wie vorgeschrieben hätten zwei Ärzte unabhängig voneinander Koma, Ausfall der Hirnstammreflexe sowie der Spontanatmung festgestellt, um im zeitlichen Abstand von 24 und 48 Stunden zu bestätigen, dass der Ausfall von Hannas Hirnfunktionen unumkehrbar war.

Ihre Tochter, sagt Tamara Schlitter, hätte schon in frühen Jahren regelmäßig Blut gespendet und auch über das Thema Organspenden offen mit ihr geredet. Daher habe sie gewusst, dass ihre Tochter bereit war, sämtliche Organe zu spenden – bis auf ihre Augen.

Ein „Park des Dankens“

Am Ende hat der Tod Hanna Schlitters das Leben von sechs Menschen gerettet oder jenen zumindest ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Viele Organempfänger hätten das große Bedürfnis, den Angehörigen der Spender für deren Geschenk zu danken, hat Tamara Schlitter im Laufe der vergangenen drei Jahre erfahren.

Mit dem am 1. April 2019 in Kraft getretenen Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende (GZSO) ist es nun immerhin zulässig, Dankesbriefe von Organempfängern an die Angehörigen der Spender weiterzuleiten. Überdies wurde im Gemeinschaftlichen Initiativplan Organspende vereinbart, den „Park des Dankens, des Erinnerns und des Hoffens“ in Halle (Saale) als bundesweite Begegnungsstätte und Ort der Wertschätzung sowie Anerkennung von Organspendern zu etablieren.

Drei Jahre nach dem Tod ihrer Tochter war Tamara Schlitter vergangenen Herbst in Halle (Saale) einer von 150 Gästen der ersten überregionalen Gedenkveranstaltung für Organspender in Deutschland, an der neben weiteren Angehörigen auch Organempfänger, dringend auf ein Organ wartende Patienten, Mediziner und Politiker teilnahmen.

Gesellschaftlicher Wandel gefordert

Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), forderte in seiner Ansprache einen gesellschaftlichen Wandel hin zu einer Kultur der Organspende: „Ziel sollte es sein, dass die Spender und ihre Angehörigen eine größere Würdigung erfahren, die unser gesellschaftliches Prinzip der Solidarität widerspiegelt.“

Sehr emotional sei die Feier gewesen, sagt Tamara Schlitter, die sich ein jährlich wiederkehrendes bundesweites Gedenken wünscht. Am 16. Januar will der Bundestag über die Neuregelung der Organspende in Deutschland entscheiden.

Zur Wahl stehen der Entwurf eines „Gesetzes zur Regelung der doppelten Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz“, wonach jeder Bundesbürger ab 18 Jahren zum Organspender würde, sofern er dem nicht ausdrücklich widerspricht, und der Entwurf eines „Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsfreiheit bei der Organspende“, der mehr Aufklärung und eine ausdrückliche Zustimmung zur Organspende vorsieht.

Welchen Entwurf zur Organspende favorisieren Sie?

61 %
Entwurf 1: Ohne Widerspruch ist jeder Organspender.
6 %
Entwurf 2: Organspende-Beratung im Bürgeramt.
16 %
Entwurf 3: Mehr Vertrauen in die Organspende schaffen.
17 %
Keinen. Es soll bleiben wie bisher.

Tamara Schlitter plädiert für die Widerspruchslösung, wobei sie sich einen affirmativen Begriff dafür gewünscht hätte. „Einverständnislösung klänge viel besser“, sagt sie. Auf jeden Fall müsse die jahrzehntelange Diskussion um die Organspende – „dieses Zerrupfen von Wörtern“ – endlich ein Ende haben.

Letztlich sei es doch Bürgerpflicht, sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein. Schließlich sei man nicht nur möglicher Spender, sondern auch potenzieller Empfänger.

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