Gesundheitskompetenz

Patienten überfordert?

Spezialisierung, Regulation, technologische Innovation – das deutsche Gesundheitssystem ist hochkomplex. Experten mahnen zu mehr Patientenorientierung.

Von Christina Bauer Veröffentlicht:
Überforderte Patienten

Überforderte Patienten

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MÜNCHEN. Das deutsche Gesundheitssystem gilt weltweit als eines der besten. Auch Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler attestierte ihm jüngst beim Kongress der Stiftung Münch in München eine hohe Spezialisierung, gute Einrichtungsdichte sowie kostenlosen Zugang. Er ist Geschäftsführer der auf Patientenkommunikation spezialisierten Patientenprojekte GmbH. Allerdings müssten Experten mehr darauf achten, dass Patienten das hochkomplexe Angebot auch nutzen könnten. Nicht nur entwickle sich das Wissen zu Medizin und Gesundheit ständig weiter. Auch die Fülle rechtlicher und organisatorischer Anforderungen, Regeln und Möglichkeiten verlange dem Nutzer einiges ab. Patienten müssten die für sie geeigneten Angebote finden, einschätzen und nutzen können. Oft müssten sie unmittelbar mit Leistungserbringern und Kostenträgern kommunizieren. Gerade wenn es Probleme gebe, müssten sie wissen, wie sie ihre Rechte durchsetzen können. Welche Irrwege Patienten im Extremfall erleben, beschrieb Schmidt-Kaehler am Beispiel einer Frau aus Kasachstan. Innerhalb eines Jahres habe sie 35 Ärzte aufgesucht und 20 unterschiedliche Medikamente bekommen.

Mehr denn je verlange die Komplexität der Angebote eine hohe Gesundheitskompetenz (Health Literacy). Studien wiesen darauf hin, dass diese ein wichtiger Faktor für gute Behandlungsergebnisse sei, mehr als Bildung, Arbeitssituation oder Einkommen. Gesundheitskompetenz ist damit für das individuelle Wohlergehen wichtig, zugleich für Ressourcenschonung.

Deutschland im Mittelfeld

Deutschland sei einer aktuellen Studie zufolge aber gerade mal im internationalen Mittelfeld. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer hätten eine als problematisch bis inadäquat eingeschätzte Gesundheitskompetenz gezeigt. Es gebe also noch reichlich Verbesserungsbedarf, so Schmidt-Kaehler. Zugleich forderten Demokratisierung, Individualisierung und Optionsvielfalt mehr als früher den mündigen Patienten. Im Einzelfall könne das zur "Entscheidungszumutung" führen, gerade bei schweren Krankheiten und Eingriffen. "Patienten dürfen immer mehr Entscheidungen treffen", sagte Schmidt-Kaehler. "Sie müssen es aber auch." Die Verantwortung für die sinnvolle Nutzung des Gesundheitssystems ließe sich aber nicht nur beim Patienten abladen. Auch auf der Angebotsseite gebe es viel Verbesserungsbedarf. Schmidt-Kaehler rückte Zugang, Verständlichkeit und Transparenz in den Vordergrund.

Kommunikation der Ärzte im Blick

Es sei Aufgabe aller im Gesundheitswesen, sich mehr an den Patienten zu orientieren. Das gelte etwa für die Kommunikation der Ärzte. Wie sie ihre Patienten informieren und beraten, sei essenziell. Zudem ließen sich durch etwas mehr Struktur die konkreten Kontakte effizienter gestalten. Schon eine Voraberhebung mit wenigen, schlichten Fragen nach dem Gesundheitsproblem könne dabei helfen. Solche Ansätze seien beispielsweise in den USA längst verbreitet.

Gleichermaßen gebe es aber auch Forderungen an die Verwaltung. Strukturen sollten transparenter und verständlicher werden. Schmidt-Kaehler betonte den Stellenwert vernetzter Versorgungsstellen. Nur zentral gesteuert könne Health Care Usability nicht erreicht werden. Luft nach oben gebe es reichlich. "Wir bräuchten im deutschen Gesundheitswesen eine große Aufräumaktion in Sachen Verständlichkeit." Nicht zuletzt böten auch digitale Mittel weit mehr Potenzial als bisher genutzt werde. Sie könnten zu besserer Vernetzung und Versorgungsforschung beitragen und sollten integrierter Bestandteil des Gesundheitssystems werden.

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Kommentare
Thomas Georg Schätzler 16.03.201700:14 Uhr

Falsches Beispiel oder gesundheitswissenschaftlicher Irrglaube?

Das Beispiel einer Frau aus Kasachstan, welche angeblich innerhalb eines Jahres 35 Ärzte aufgesucht und 20 unterschiedliche Medikamente bekommen haben soll, ist ebenso trivial wie irrelevant. Auch wenn es von Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler, Studium und Promotion an der Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Dr. PH, MPH, 04/2011 bis 02/2015 Geschäftsführer (CEO) Unabhängige Patientenberatung Deutschland - UPD gGmbH und ab 3/2015 Mitarbeiter/Geschäftsführer der auf Patientenkommunikation spezialisierten Patientenprojekte GmbH stammt.

Es belegt nicht nur "eine hohe Spezialisierung, gute Einrichtungsdichte sowie kostenlosen Zugang" in der Krankenversorgung in Deutschland. Sondern sein Beispiel belegt zugleich auch die in Kasachstan völlig unbekannte "flatrate"- bzw. "all you can eat"-Mentalität der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Denn GKV-Kassen, Medien, Öffentlichkeit und Beratungseinrichtungen entfalten täglich ein multimediales Feuerwerk der ständigen Erreichbarkeit und Verfügbarkeit medizinisch-ärztlicher Vollversorgung mit 24-Stunden-Bereitschaft ohne Wartezeit und Dringlichkeits-Disposition.

Patientinnen und Patienten werden grundsätzlich nie von den Kassen auf allgemeine Verhaltensregeln, Einschränkungen nach Paragraf 12 SGB V (Sozialgesetzbuch) hingewiesen und zu rationalem Verhalten in der Arzt-Patienten-Kommunikation angehalten. §12 SGB V: "Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten". Das ist das sogenannte WANZ-Prinzip (wirtschaftlich, ausreichend, notwendig, zweckmäßig).

Mit-Verantwortung für sinnvolle Nutzung des Gesundheitssystems und der Krankenversorgung liegt aber eben nicht nur beim Arzt, sondern auch und gerade beim Patienten, der nicht alle Bagatellen, Befindlichkeiten, Sorgen, Nöte und Ängste bei Medizinern und nichtärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abladen bzw. durch Hochleistungsmedezin kompensatorisch lösen lassen darf. Zugang, Verständlichkeit und Transparenz aller medizinischen Dienstleistungen stehen im Kontext von Solidarität, Subsidiarität und Selbstverantwortung.

Daran ändert auch eine wortreich "als problematisch bis inadäquat eingeschätzte Gesundheitskompetenz" (Health Literacy) nichts. Denn diese kann nur durch Schulung, DMP (Disease Management Programme), Integrierte Versorgung (IV), Gesundheits- und Krankheits-Pädagogik, Ich-Stärkung, Selbstbehauptungs- und Lebensstil-Interventionen, Mediatoren- und Mentoren-Programme verbessert werden. Durch "vernetzte Versorgungsstellen" alleine und wie auch immer peripher oder "zentral gesteuert könne ''Health Care Usability'' nicht erreicht werden".

Vgl. dazu
"HEALTH LITERACY" – ist das Kunst oder kann das weg?
"Nach der Studie ''Health Literacy in Deutschland'' der Bielefelder Professorin Doris Schaeffer fällt es mehr als der Hälfte der Deutschen (54,3 Prozent) schwer, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden....Damit ist die „Gesundheitskunde“ als umfassendes Schul- und lebenslanges Lern-Fach zu Sprach-, Zahlen-, Bilder-, Computer-, Verständnis-, Kommunikations- und Semiotik-Wissenschaften hochstilisiert worden, um technologischen Wissenserwerb und Verständnis komplexer Zusammenhänge zu erreichen. Mit diesem wissenschaftstheoretisch völlig überladenen „Wasserkopf“ wollen sich Medizin-, Krankheits- und Versorgungs-bildungsferne sozialwissenschaftliche Experten/-innen als Gesundheitsforscher und Gesundheitswissenschaftler profilieren und über ihren neuen Wissenszweig Alleinstellungsmerkmale und weiteres Herrschaftswissen aufbauen. Die niedergelassenen Vertragsärzte, insbesondere die primär bei Krankheits-, Gesundheits- und Präventionsfragen in Anspruch genommenen Familien- und Hausärzte wurden in einer sich permanent verändernden Wissenschafts-Gesellschaft in einem dauerhaften Diskurs über unterschiedliche

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